Von Menschen und Raketen

Neue Highlights für „Technoromantiker“ (Karl Kraus). In Bremen will man Jungarbeitslose mit einem Space-Park an den europäischen Raumfahrtgedanken heranführen. Die alten Raketenbaupioniere präsentieren unterdessen ihre neuen Memoiren ■ Von Helmut Höge

Die Deutschen waren verständnisvoller, unterwürfiger und gehorsamer, als wir erwartet hatten

In Berlin-Adlershof wurden jüngst „Wernher von Brauns Enkel“ wieder vereinigt, wie die B.Z. berichtete. Die Raketeningenieure kommen aus dem DDR-Institut für Kosmosforschung und der Westberliner Technischen Universität. Ihre neue Adlershofer Synergie wird sinnigerweise von Albert Speer junior architektonisch mitgestaltet. Die alten Peenemünder V 2-Ingenieure haben dagegen inzwischen ihre Memoiren verfasst. Deren erste Garde sammelten 1945 die Amis ein, dennoch war die zweite Reihe, die sich die Sowjets schnappten, erfolgreicher.

In Westdeutschland hatte der SS-Offizier und spätere Nasa-Chefkonstrukteur Wernher von Braun Vorbildfunktion. Die seinem Geist verpflichteten Bildungsvereine ab Mitte der Fünfzigerjahre hießen jedoch unverfänglich „Hermann Oberth-Gesellschaften“. In ihnen wurde die von Braun inspirierte Nachkriegsjugend holzbastelnd an den Raketenbau herangeführt. Ihre 2-Meter-Geschosse durften sie auf französischem Versuchsgelände ausprobieren.

Heute will man in Bremen die Jungarbeitslosen natürlich noch spielerischer – mit einem „Space-Park“ – an den europäischen Raumfahrtgedanken heranführen. Das Dasa-(DaimlerChrysler-) Konzept dafür war ursprünglich für die „Wiege der Weltraumfahrt – Peenemünde“ konzipiert worden. Jüdische Gemeinden konnten jedoch die „Verherrlichung der Mordwaffe“ dort verhindern. Sie findet nun im Bremen statt und fungiert dort als „Korrespondenzstandort“ der Expo 2000, wozu gleichzeitig der Berliner Regisseur Robert Bramkamp den V 2-Erotik-Roman von Thomas Pynchon „Die Enden der Parabel“ kongenial als Doku-Fiction verfilmte: „Das Lied der Rakete“.

Zur biografischen Fundierung der neuen, nun erst 1954 (!) ansetzenden Bremer Raketen-Didaktik erschien zudem gerade auf Deutsch der Bildungs-„Roman einer Jugend“: aus einer von Perspektivlosigkeit heimgesuchten armen amerikanischen Bergarbeitergegend. Dort wurde die raketenforschende männliche Jugend systematisch in ihrem Waffenwahn von Erziehern und Lehrernunterstützt. Nachdem die Russen 1957 als erste den Weltraum „erobert“ hatten, was augenblicklich einen „Sputnik-Schock“ im Westen auslöste. Einer von denen, die es tatsächlich schafften, bis in die „Schaltzentrale Wernher von Brauns“ vorzustoßen – hieß Homer H. Hickam: Er wurde Astronautentrainer bei der Nasa. Seine Erfolgsgeschichte heißt auf Deutsch (sic!): „Rocket Boys“.

Den smarten Peenemünder Ariern in Alabama standen in der UdSSR vornehmlich jüdische Wissenschaftler gegenüber. Boris E. Tschertok, einer der Stellverteter des Leiters der sowjetischen Raketenbauprogamme, war in seiner Jugend ein begeisterter Radioamateur. Die ersten zwei seiner vier Bände umfassenden Memoiren erschien soeben auf Deutsch. In weiten Teilen thematisiert Tschertok darin die russischen Raketen-Anfänge, die tatsächlich erst mit dem Requirieren deutscher Technik nebst Technikern aus Berlin und aus dem Harz richtig in Schwung kamen. 1938 hatte man auch den damals in Russland fast einzigen Raketenkonstrukteur Koroljow inhaftiert. Ende 1945 wurde er wieder freigelassen und sofort zum Verantwortlichen für den Raketenbau ernannt. Auch für das inzwischen von Tschertok und seinen Mitarbeitern aufgebaute „Institut Rabe“ in Bleicherode, in dem die deutschen Raketenbauer zunächst angestellt wurden. Der Prominenteste unter ihnen war von Brauns Stellvertreter für Funksteuerung, Helmut Gröttrup. Insgesamt beschäftigten die Russen schließlich 6.000 Deutsche.

Nachdem diese geholfen hatten, 12 V 2-Raketen zu montieren, wurden etwa 150 deutsche Spezialisten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Russland deportiert: „Sie waren verständnisvoller, unterwürfiger und gehorsamer, als wir erwartet hatten“, schreibt Tschertok. Ein Großteil der Spezialisten kam auf die Insel Gorodomlia im Seligersee. Werner Albring und Kurt Magnus, der eine später in Ost-, der andere in Westdeutschland tätig, haben darüber zuletzt Erinnerungen verfasst.

Am 18. 10. 1947 wurde die erste sowjetische Rakete (der Serie „T“) gestartet. Und die Deutschen wurden langsam überflüssig, aus Geheimhaltungsgründen ließ man sie noch eine Weile auf Gorodomlia „abkühlen“. Sie waren laut Tschertok vor allem für die Entwicklung einer dem Waffensystem angemessenen neuen „Produktionskultur“ wichtig gewesen. Was merkwürdig klingt, wenn man bedenkt, dass die deutschen V-Waffen die ersten waren, bei der mehr Menschen bei der Herstellung als durch ihren Einsatz starben. Es geht um die Zwangsarbeiter in Peenemünde und bei Nordhausen. Die deutschen Spezialisten in Russland kann man dagegen kaum als „Raketensklaven“ bezeichnen, wie Kurt Magnus das tut: Wiederholt stritt das deutsche Kollektiv mit den russischen Spezialisten im neuen geheimen Raketeninstitut bei Moskau über Steuerungs- und Stabilitätsprobleme, Gröttrup forderte immer wieder die Teilnahme an Experimenten. Zwischen 1950 und 1953 schaffte man die Deutschen heim. Gröttrup konstruierte später für Siemens Rechenmaschinen, seine Frau veröffentlichte 1985 ihre Tagebücher unter dem schönen Titel „Besessene im Schatten der roten Raketen“.

Tschertok schreibt, die technische Erfahrung der Deutschen habe ihnen „viele Jahre schöpferischer Arbeit erspart“. Darüber hinaus hatte „die Tatsache, dass wir uns nach dem schweren Krieg die deutschen Errungenschaften angeeignet haben und diese dann in einer sehr kurzen Zeit überboten haben, eine sehr große Bedeutung für die allgemeine technische Kultur im Lande“. Als die Raketen- und Atomwaffen Ende 1953 vereinigt wurden und ein „Atomstädtchen“ nach dem anderen – abgeschirmt, aber umso üppiger ausgestattet – entstand, kam noch die Erkenntnis hinzu: „Das Land war einfach nicht in der Lage, allen drei auf diesen Gebieten arbeitenden Industrien – der Kern-, Raketen- und Funkortungsindustrie – solch komfortable Bedingungen zu schaffen.“ Die sowjetischen Spezialisten profitierten dennoch vom Mangel: „Sie wurden mit der Zeit wichtiger für die Macht als die Beamten und sogar das Militär“, wie ihr Biograf Daniil Granin meint. Und trotz wiederkehrender antisemitischer Direktiven von oben wurden laut Tschertok „die Juden in der Verteidigungs- und in der Atomindustrie von Stalin und Beria nicht nur gelitten, sondern talentierte Juden sogar beschützt. Sie wurden fast genauso bewacht wie Mitglieder der Regierung.“

Seit dem Zerfall der Sowjetunion, den zurückgehenden Staatsausgaben und antisemitischen Aktivitäten von unten gibt es wieder einen nennenswerten jüdischen Braindrain aus Russland – als Teil der „Fünften (Emigrations-)Welle“. Allein 1996 emigrierten 15 % aller Ingenieure. Bis 1989 waren noch 32,4 % aller weltweit in der Wissenschaft Beschäftigten in der UdSSR tätig. Aus der Russischen Akademie der Wissenschaften gingen seitdem 20 % der Mathematiker und 19 % der Physiker ins Ausland – nicht selten in die amerikanische und israelische Rüstungsindustrie. Von den nach Deutschland emigrierten Spezialisten sind die meisten unbeschäftigt oder für ihre Arbeit überqualifiziert. Der 1912 in Lodz geborene B. E. Tschertok lebt heute als Pensionär in Moskau.

Homer H. Hickam „Rocket Boys“. edv, München 1999, 28 DM Boris E. Tschertok: „Raketen und Menschen“. Bd. 1 und 2., Elbe-Dnjepr-Verlag, Klitzschen 1998, je 50 DM