Sender müssen Server werden

Mit der Fusion von AOL und Time Warner wird sich auch das Fernsehen den Regeln des Internets anpassen müssen ■ Von Niklaus Hablützel

Wenn wir heute MP 3-Musikaufnahmen aus dem Internet holen, sind wir Teil eines neuen Systems

Als das 20. Jahrhundert zu Ende ging, schien zumindest in Europa auch der Begriff der Revolution nicht mehr recht brauchbar. Zu vieles hatte in diesem Namen als Katastrophe geendet. Dennoch scheint der Wunsch nach einem Umsturz der Fundamente, der damit gemeint war, ein seltsames Eigenleben zu führen. Mitten in der politischen Enttäuschung suchte er einen neuen Stoff, an dem er sich festhalten konnte. Er fand ihn dort, wo die Moderne seit dem 18. Jahrhundert noch immer den Stoff ihrer Träume fand: in der Technik. Die Vorstellung, dass großartige Maschinen unser Leben in ein einziges Reich des Glücks und der Freiheit verwandeln könnten, kehrte mit erstaunlichem Erfolg in den Diskurs der Eliten zurück. Mitte der 90er-Jahre war es nicht nur möglich, sondern geradezu Pflicht geworden, von einer neuen Revolution zu sprechen, von der Revolution des Internets nämlich, einer Revolution der Kommunikationsmittel also, deren Folgen noch gar nicht abschätzbar seien. Fundamental jedoch sei sie in jedem Falle.

Die Karriere dieses Begriffs ist so erstaunlich, dass es sich empfiehlt, über seine Legitimation nachzudenken, zumal die Karriere der Sache, die er bezeichnen soll, in Schwindel erregendem Tempo wie von selbst zu bestätigen scheint, dass wir schon mitten in einem Umsturz aller althergebrachten Verhältnisse leben. Passend zum Jahrhundertwechsel haben der Online-Dienst AOL und der Medienkonzern Time Warner ihre Fusion bekannt gegeben, eine der größten in der Wirtschaftsgeschichte, und mit kaum zu übertreffendem Selbstbewusstsein haben die Firmenvorstände ihren Schritt als Beginn einer neuen Epoche beschrieben. Die Börsen haben dieser Selbstinterpretation umgehend mit steigenden Kursen zugestimmt. Kaum ein Zweifel scheint deshalb noch möglich, dass dieses alle bisherigen Größenordnungen sprengende Unternehmen sich anschickt, Geschichte zu schreiben. Es schreibt zwar nur Mediengeschichte, aber das ist die einzige, die noch zählt – denn politische Unruhen und Kriege sind nichts als ein unverständliches und blutiges Chaos, wenn die Medien sie uns nicht erklären.

Die in dieser Hinsicht beispielhafte Rolle des Nachrichtensenders CNN ist oft genug beschrieben worden. Auch CNN gehört zum fusionierten Konzern, der bemerkenswerterweise nicht von den im Mediengeschäft erfahrenen Managern von Time und Warner, sondern vom Chef von AOL geleitet werden wird. Erst so, unter der Führung eines kaum mehr als zehn Jahre alten Computernetzes, nimmt auch CNN Teil an der Revolution, die sich vor unseren Augen abspielt: der Revolution des Internets.

Nun ist der Online-Dienst AOL streng genommen selber nur ein Parasit des originalen Internets, das bekanntlich im Auftrag des Pentagons entwickelt wurde. Doch diese historischen Umstände verblassen heute vor einer allgemeineren Beobachtung. Über die wirtschaftlichen Tatbestände hinaus ist ja kaum zu bestreiten, dass sich unsere Kommunikationsmittel gründlich verändern. Um diesen Prozess zu verstehen, ist es nützlich, zwischen Techniken zu unterscheiden, die schon bekannte Probleme lösen, und solchen, die das nicht tun, sondern stattdessen neue Bedürfnisse und damit bisher unbekannte Probleme erzeugen. Nur die zweiten haben, wenn sie erfolgreich sind, derart epochale Folgen, dass wir von einer Revolution sprechen dürfen. Die anderen, lediglich problemlösenden, verbessern bloß einen bestehenden Zustand.

Die CD zum Beispiel löste das Problem der ewig zerkratzten, analogen Schallplatten. Ihre Einführung hat den Musikhandel verändert, aber nicht unseren Musikkonsum. Für das Internet gilt das nicht mehr. Wenn wir heute Musikaufnahmen (im MP 3-Format) aus dem Internet holen, die in technischer Hinsicht der CD unterlegen sind, sind wir Teil eines neuen Systems. Wir nehmen Kontakt auf mit einem Computer, „Server“ genannt, von dem wir in der Regel nicht wissen, wo er sich befindet. Der geografische Raum verschwindet zu Gunsten eines imaginären Raums, für den sich der Name „Cyberspace“ eingebürgert hat. Der Server versorgt uns nun nicht nur mit den gewünschten Musiktiteln, er informiert uns außerdem über andere Neuheiten oder auch über die Meinungen anderer Musikfreunde, mit denen wir über das Netz ebenfalls Kontakt aufnehmen können.

Nur auf den ersten Blick gleicht diese Dienstleistung dem Musikladen, den wir kennen. Der Musikserver enthält zum Beispiel Links für die Homepages unserer Lieblingsstars. Wenn wir sie anwählen, wird ein anderer Server aktiv, der wieder Links enthält – wer immer zum ersten Mal ins Internet geht, kommt mit etwas verwirrtem Blick und dem untrüglichen Gefühl zurück, in einer anderen Welt gewesen zu sein, einer komplizierten Welt, in der alles gleichzeitig da zu sein scheint. Das macht uns orientierungslos und wirft uns auf uns selber zurück. Eine typisch existenzielle Erfahrung, denn der erste Begriff der neuen Freiheit ist die Angst, allein zu sein in einem sinnlosen Universum.

Daran haben wir uns inzwischen gewöhnt, das Internet gehört bereits zum Alltag des Berufslebens. Schon Mittelständler organisieren heute ihren Verwaltungsapparat damit, wir schreiben E-Mails und buchen unsere Urlaubsflüge. So hätte alles seinen gewohnten Gang nehmen können, wäre mit dem Internet nicht eine Technik in die Welt gekommen, die weit darüber hinausgeht, die Probleme zu lösen, die wir schon kennen. Die Intelligenz vernetzter Maschinen kann den Rest der Welt nicht in Ruhe lassen. Zuerst sollten nur militärische Befehle zuverlässig übermittelt werden, dann begannen Wissenschaftler ihre Papiere auszutauschen, der elektronische Briefverkehr setzte sich durch, dann kamen die grafisch aufgeblähten Dokumente des World Wide Web. Der nicht mehr ganz so billige Spaß musste mit Werbung finanziert werden und ist heute unter dem Namen „E-Commerce“ ein Geschäft mit sagenhaften Wachstumsraten.

Niemand hat irgendetwas davon gebraucht, bevor es das Internet gab. Schon gar nicht die Fernsehanstalten. Aber mit der Fusion von AOL und Time Warner gerät das Leitmedium der Gegenwart unter den Zugriff dieser Technik: Auch diese Entwicklung ist oft vorausgesagt worden. Zu ihren Fürsprechern gehörten jedoch nicht die Pioniere des Internets. Ihnen war besser bewusst als den nachfolgenden Managern des E-Commerce, wie wenig Fernsehen und Internet miteinander zu tun haben. Die Pioniere waren Hacker, keine Couchpotatoes, sie verstanden ihren Computer als Sprachrohr, nicht als Berieselungsmaschine, und in der Tat schlägt die erste Erfahrung der Einsamkeit, die wir im Cyberspace machen, sehr bald in ihr Gegenteil um. Das Internet hat hundertausende von informellen User-Gruppen hervorgebracht. Absolut niemand scheint mehr allein zu sein mit seinen Sorgen, es gibt keine Passion und keinen Gedanken mehr, die nicht von anderen in dieser imaginären Welt geteilt und schier endlos besprochen werden könnten. Diskussionsforen („Newsgroups“), Mailing-Listen und auch Websites befriedigen prinzipiell jede Lust und auf jedem Niveau, angefangen von offen zur Schau getragenen sexuellen Manien bis hinauf zu hoch sublimierten Diskursen über Wissenschaft, Kunst und Moral. Jede Sekte wird sofort zur aktiven Gemeinde, und keine politische Parole ist so konfus, dass sie nicht eine Partei fände.

Die Bürger dieser elektronischen Welt können abends unmöglich die Beine hochlegen und vor dem Fernseher abschalten. Die Fusion von AOL und Time Warner hat mit dieser fröhlichen, sich ständig neu gruppierenden Geselligkeit zu rechnen. Sie wird sie kaum unter dem Diktat eines Monopols gleichschalten können. Wahrscheinlicher ist, dass eine wahre Sturzflut privatistischer Interessen den Konzern überschwemmen wird. Noch nie zuvor wurden sie derart wirkungsvoll artikuliert und auch publiziert. Sie werden die Programmschemata der Sender auflösen und durch das dialogische Prinzip von User-Gruppen ersetzen.

Sender werden Server, das ist, ins Technische gewendet, die Botschaft des neuen Megakonzerns. Man kann sie pessimistisch beantworten mit dem Hinweis auf einen neuen Meinungsterror riesiger Kapitalmassen, der sich nunmehr der modernsten Technik bedient, um mit dem alten Mittel der repressiven Toleranz ein erweitertes Modell des totalen Konsums durchzusetzen. Aber die Warnung kommt zu spät, und so recht überzeugen kann sie ohnehin nicht. Sie trifft eher die Medienmacht, die wir heute kennen. Fernsehprogramme zwingen uns aus technischen Gründen dazu, uns zu einer bestimmten Zeit vor dem Apparat einzufinden, um dort der Botschaft zu lauschen. Vor einem Server dagegen müssen wir uns nicht versammeln. Er antwortet erst, wenn wir ihn anfragen, und sendet nur, worum wir ihn zuvor gebeten haben.

Auf das Fernsehen angewandt, führt das technische Prinzip des Internets deshalb zu einer Diktatur der Konsumenten. Die in Diskussionsforen liebevoll gepflegten Pamphlete gegen Meinungen, die nur um Haaresbreite von dem gerade in dieser Gruppe geltenden Standard abweichen, geben einen Begriff davon, was den Medienanstalten morgen blüht. Keine Marktforschung wird das blanke Chaos sich ständig neu organisierender renitenter User vorhersagen können. Natürlich können sie auf dieser Ebene professioneller Angebote, etwa des Spielfilms oder Infotainments, nicht mehr selber hervorbringen, was sie konsumieren wollen. Doch umso hartnäckiger werden sie deshalb auf der Forderung bestehen, dass ihr Tagesgeschmack befriedigt werde.

Revolutionen pflegen ihre Kinder aufzufressen. Es spricht nicht viel dafür, dass wir (und unsere Freiheit) die ersten Opfer dieses historischen Kannibalismus sind. Eher schon die heutigen Medienproduzenten, die wahrscheinlich noch gar nicht wissen, dass sie in Zukunft erst dann senden dürfen, wenn sie zuvor sehr genau zugehört haben. Sonst schalten wir sie einfach ab und surfen fröhlich zur nächsten Peergroup weiter.