10 Jahre Postkommunismus (5 und Ende): Wer heute links sein will, der kann nichts anderes als sozialdemokratische Politik machen
: Zehn kleine Linkelein ...

Die moderne Linke ist geprägt durch den Gedanken der politisch verfassten Freiheit

Am Ende ist Abbitte zu leisten und dem Autor Recht zu geben. Es war Botho Strauß, der 1993 im „Anschwellenden Bocksgesang“ prophetisch schrieb: „Man kann tun, was man will: morden oder beten, revolutionieren oder freie Parlamente wählen – irgendwann zerbricht jede Form, zerbrechen die Krüge und die Zeit läuft aus. Und man wird anschließend wiederum alles aufklären und nachträglich die trügerischen Vorhersehbarkeiten ... bloßlegen.“ Noch genauer kann man die gegenwärtige Lage des deutschen, nein des europäischen Konservativismus kaum beschreiben. Es scheint, als habe der mit einem Winseln in sich zusammengefallene reale Sozialismus (Caspar Weinberger) seine Gegner mit in den Abgrund gerissen.

Übrig bleibt jedenfalls in Deutschland ein rot-grünes Regierungsbündnis, das keineswegs, wie versprochen, einiges besser, sondern lediglich dasselbe auf anspruchslose Art anders macht. Davon zeugt die Nichtreform der studentischen Ausbildungsförderung ebenso wie die Botmäßigkeit gegenüber dem völkermörderischen Krieg Russlands wider die Tschetschenen, der den versuchten Genozid der serbischen Regierung an den Kosovaren längst in den Schatten stellt. Der Verdacht, dass die im Kosovo-Krieg bemühten Menschenrechte nur Ideologie waren, gewinnt an Gewicht.

Stellt man in dieser Situation die Frage danach, wo die „Linke“ bleibt, stößt man wiederum auf Botho Strauß: „Seltsam, wie man sich ‚links‘ nennen kann, da links doch von alters her als Synonym für das Fehlgehende gilt.“ Man findet aber auch mehr oder minder sympathisierende Ratgeber wie Richard Herzinger in der Kommune, der sich einen Erneuerungsschub aus der Kraft eines nonkonformistischen Individualismus erhofft. Das mutet zwar sympathisch an, liefe aber nur auf die unfreundliche Übernahme eines entleerten Firmenmantels hinaus.

Ein Blick auf die real existierende Linke in Deutschland verheißt wenig Besseres: hier der marginalisierte „Frankfurter Kreis“ in der SPD, dort ein paar unzeitgemäße grüne Mandatsträger, die der so genannten Regierungslinken hoffnungslos hinterherhinken. Zudem verbeißt sich eine versprengte Gewerkschaftslinke in Strukturreformen. Schließlich frönen ein paar Autonome dem Ritual der Straßenschlacht, und Intellektuelle wie Jürgen Habermas und Günter Grass äußern sich redlich über den Zustand der Republik. Endlich hat sich in Ostdeutschland – alles in allem nicht größer als Nordrhein-Westfalen – ein System aus drei gleichgewichtigen Parteien herausgebildet, deren profilierteste, die PDS, das Erbe der Linken beansprucht und einen – selbstverständlich – „modernen“ Sozialismus kreieren will. Die Schwäche der „Linken“ steht in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Problemdruck – national wie international. Allen Beteuerungen zum Trotz hat sich in Deutschland inzwischen eine Zweidrittelgesellschaft herausgebildet, die viel beschworene globalisierte Welt ist von einem so noch nicht gekannten Ausmaß an Elend und Armut betroffen. Wortreich beklagen konservative Vordenker des Neoliberalismus, etwa die Thatcher- und Reagan-getreuen Publizisten John Gray und Edward Luttwak, das Steigen von Scheidungsraten, den Zerfall der Familie und einen Turbokapitalismus, der vor allem den Mittelstand ruiniere.

Wo also bleibt die Linke? Sie verharrt in unverstandener Gegnerschaft gegen das Ganze, wie etwa die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke, von der zu lesen war, dass sie am liebsten das „System stürzen“ würde. Zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer trauert eine Linke, die sich vor Jahr und Tag aus adoleszentem Überschwang und deutscher Misere heraus den politischen Religionen von Anarchismus, Leninismus und Maoismus hingegeben hat, einem Projekt nach, das schon immer das falsche war. Während ehemalige Politkader leninistischer Kleinstparteien reumütig zu wandelnden Inbegriffen verantwortungsethischer Stagnation werden, quälen sich Honeckers Erben noch immer mit der Frage, ob das Parteiprogramm der PDS auf die Erwähnung der Oktoberrevolution verzichten kann. Jene aber, die das einzig haltbare Erbe der Linken in der Moderne verwaltet, die Sozialdemokratie, hat es auf dem Altar pragmatischer Zwänge geopfert und intellektuell verspielt. Daher scheint Ralf Dahrendorf, der vor Jahren das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters verkündete, inzwischen ebenso Recht zu bekommen wie jene Zyniker, die im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat lediglich einen Abwehrreflex der kapitalistisch-bürgerlichen Staaten in der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion sahen.

Das Scheitern der real existierenden Linken ebenso wie die Möglichkeit eines Neubeginns hängt davon ab, wie sie den eigenen Grundgedanken versteht. Die Linke unserer und künftiger Tage ist nämlich – anders, als Ernst Nolte meinte – nicht als „ewige Linke“ durch ihren Bezug auf Würde, Glück, Gerechtigkeit und Gleichheit geprägt, sondern als die „Linke“ der modernen Welt durch den Gedanken der politisch verfassten Freiheit, der rechtsstaatlich verfassten Demokratie. Insoweit geht es auch nicht darum, wie undogmatische Köpfe stets gönnerhaft Parteikommunisten aller Art entgegenhielten, die unbezweifelbaren Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie zu bewahren und zugleich zu überwinden, sondern nur darum, deren Prinzipien angemessen zu entfalten. Das lässt sich – der gebotenen Kürze wegen – nur in Stichworten nachzeichnen.

Dass einer oder wenige alleine nicht frei sein können – diese Einsicht des Begründers der radikalen Demokratie, von Jean Jacques Rousseau – musste unter den von Marx unstreitig nachgewiesenen notwendigen Verletzungen materieller Gleichheit im Kapitalismus zu einer politischen Konzeption führen, die den gleichen Wert der Freiheit für alle garantierte. Während aber Marx und die radikale Linke – das erste Missverständnis – die bürgerliche Freiheit, die auf individuellen Rechten und damit auf dem „Eigentum“ begründet ist, zu Gunsten eines schließlich politikfreien radikalen Individualismus „stürzen“ wollten, entwarf Ferdinand Lassalle ein politisches Gemeinwesen, das diese Freiheit materiell garantieren sollte, einen noch autoritären Wohlfahrtsstaat – das zweite Missverständnis. Es waren August Bebel und die aus der Tradition der Revolution von 1848 stammenden radikaldemokratischen und marxistischen Arbeitervereine, die den noch patriarchalischen Wohlfahrtsstaat lassallscher Prägung im Geiste der politischen Demokratie neu konzipierten. Bebels Klassenkampf war das allerdings unumgängliche Mittel, die politische Demokratie der Moderne zu vervollkommnen, das heißt, auch die Wirtschaft zu demokratisieren.

Dass ein Sozialismus, der etwas radikal anderes sein will als politische Demokratie in Wirtschaft, Gesellschaft und Ökonomie, in Tyrannei umschlagen muss, hat schon in den Zwanzigerjahren niemand genauer gesehen als der marxistische Sozialdemokrat Karl Kautsky. Freilich zehrten auch Kautsky und seine Freunde noch von der Vorstellung, dass die sozialistische Demokratie eines Tages verwirklicht und abgeschlossen sein könnte – das dritte Missverständnis.Indem schließlich der „Revisionist“ Eduard Bernstein die sozialistische Demokratie als eine nicht abschließbare Aufgabe begründete, befreite er den sozialdemokratischen Gedanken aus einem vierten Missverständnis, aus einer Ambivalenz, die ihn theoretisch die Revolution postulieren und praktisch folgenlosem Pragmatismus nachstreben ließ.

Im Gegensatz zu manch anderer These fängt die Moderne jetzt erst weltweit an

Der sozialdemokratische Gedanke hat den Niedergang der Ideologien des Weltbürgerkriegs, von naivem Liberalismus bzw. Konservativismus hier und despotischem Kommunismus dort, doch systematisch und moralisch mehr oder minder heil überstanden. Beide Ideologien haben nicht verstanden, dass politische Freiheit und materielle Sicherheit, die etwas ganz anderes als nur Chancengleichheit sind, einander wechselseitig bedingen. In der einen Moderne, die entgegen anders lautenden Meinungen jetzt weltweit erst richtig anfängt, kann in politischer Hinsicht „links“ zu sein gar nichts anderes heißen, als im definierten Sinn sozialdemokratische Politik zu betreiben. Vor seinen Feinden muss sich das zwar nicht überhistorische, aber doch epochale sozialdemokratische Projekt heute nicht mehr fürchten – umso mehr vor seinen Freunden, zumal wenn sie sich in gleichnamigen Parteien befinden.

Micha Brumlik