Anhaltender Rassismus

Südafrika gilt heute als demokratischer Staat und die Apartheid als vergangenes Übel. Dennoch bleibt die Hautfarbe eine entscheidende Kategorie – in der Politik wie im Alltag –, und der Verdacht des Rassismus taucht geradezu inflationär auf. Dahinter steckt die Grundsatzfrage: Wer ist Afrikaner? Von Kordula Doerfler

Am späten Nachmittag, zur Hauptverkehrszeit, besteigt ein Mann Ende zwanzig einen vollbesetzten Bus in Südafrikas Hauptstadt Pretoria. Ohne Vorwarnung zieht er eine Schusswaffe und eröffnet das Feuer. Der Fahrer des Busses und zwei Frauen werden tödlich, vier weitere Fahrgäste schwer verletzt. Der Mann verlässt den Bus und entkommt auf einem in der Nähe geparkten Motorrad. Noch eine Woche später fehlt von dem Täter jede Spur.

Alltag in einer von Gewalt geschüttelten Gesellschaft? – Nicht ganz. Nur wenige Minuten nach der Tat Mitte Januar wissen Südafrikas Medien bereits das Motiv: Rassismus trieb den Mann. Vergleiche zu ähnlichen Taten in der Apartheidvergangenheit zieren am nächsten Tag die Titelseiten. Auch die Parteien reagieren in seltener Einmütigkeit. „Die Tat ist eindeutig Teil einer politischen Verschwörung, um das Land in eine Krise zu befördern“, weiß ein Sprecher des „African National Corgress“ (ANC). „In Südafrika gibt es einen neuen Geist des Terrors“, konstatiert Constand Viljoen, Vorsitzender der rechten Freiheitsfront. „Ein abscheuliches Verbrechen, das das Land destabilisiert“, nennt die Demokratische Partei die Tat. Präsident Thabo Mbeki ruft zu Besonnenheit auf.

Warum? Was unterscheidet dieses Verbrechen von anderen? Vorerst nur das: Der Täter war ein Weißer, seine Opfer waren ausschließlich Schwarze. Dass die Tat rassistisch motiviert und kaltblütig geplant war, ist möglich, sogar wahrscheinlich. Doch möglich ist auch, dass der Täter schlicht verrückt ist. Noch ehe genaue Einzelheiten bekannt sind, wird eine nationale Krise herbeigeredet.

Zehn Jahre nach Nelson Mandelas Freilassung ist in Südafrika die Hautfarbe noch immer die entscheidende Kategorie und Rassismus keineswegs verschwunden. Im Gegenteil: Im Alltag wird Rassismusverdacht geradezu inflationär geäußert. Vergessen wird dabei leicht, woher das Land kommt. Noch 1994, vor den ersten demokratischen Wahlen, stand es kurz vor einem blutigen Bürgerkrieg. Heute sind rassistisch motivierte Verbrechen wie das oben geschilderte – glücklicherweise – eine absolute Ausnahme.

Die Wunden von 350 Jahren Unterdrückung sitzen dennoch – wen mag es ernsthaft wundern? – tief, und von der von Bischof Desmond Tutu erträumten Regenbogengesellschaft ist Südafrika noch immer weit entfernt. Weiße und Schwarze wohnen in getrennten Vierteln, gehen nur selten miteinander aus und heiraten noch seltener untereinander. Weiße Farmer sind meist so rassistisch wie eh und je, und englischstämmige „liberale“ Städter lassen ihre Hausangestellten weiterhin völlig selbstverständlich nicht das gleiche Geschirr benutzen, das sie benutzen.

Und die gut gemeinten Bemühungen der neuen Regierenden, Rassismus auszurotten, bewirken in der Praxis oft das Gegenteil. Mit dem aus Amerika entlehnten Konzept von Affirmative Action (einer Art positiven Diskriminierung von bis dahin Benachteiligten) und einer ganzen Reihe hochkomplizierter Antidiskriminierungsgesetze will der ANC die Ewiggestrigen bekehren und dafür sorgen, dass die „früher Benachteiligten“, wie es im politisch korrekten Amtsenglisch heißt, heute bevorzugt werden.Das aber führt zu Quotenrechnereien, gegen die diejenigen der deutschen Grünen geradezu albern wirken. Dass Südafrika auch nach fünf Jahren Demokratie weit davon entfernt ist, eine Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle zu sein, bestreitet niemand. Zwar sitzen an den Schaltstellen der Macht heute fast ausschließlich Schwarze, die stark monopolistisch organisierte südafrikanische Wirtschaft konzentriert sich jedoch immer noch in den Händen weniger Weißer.

Und natürlich hat Präsident Mbeki Recht, wenn er der weißen Minderheit vorwirft, sie verwechsle Demokratie mit Besitzstandswahrung. „Zu glauben, dass der Rassismus verschwinden würde, nur weil wir eine Demokratie sind, ist reines Wunschdenken“, meint Siseko Njobeni von der in der Verfassung vorgeschriebenen Menschenrechtskommission. „Das Thema Rasse begleitet uns seit Jahrzehnten, und ich fürchte, das wird auch noch eine Weile so bleiben.“

So viel Selbsterkenntnis ist im Alltag allerdings nur selten. Im Aufspüren von Rassismus sind die Südafrikaner jeder Hautfarbe heute Weltmeister – allen voran die Menschenrechtskommission. Sie verstieg sich unlängst in einer Studie über Rassismus in den Medien zu einer grotesken Interpretation, indem sie das Foto von ein paar großen Vögeln, die in der Johannesburger City im Müll wühlten, als rassistisch einstufte. Und zwar deshalb, weil das Foto die Ängste der Weißen widerspiegele, dass die Innenstadt zunehmend afrikanisiert, also nach ihrem Verständnis verfallen werde. Dass das Foto in Uganda aufgenommen war, war den eifrigen Forschern entgangen.

Eigenartigerweise sind alle Südafrikaner offenbar ständigem Rassismus ausgesetzt. Ob an Schulen und Universitäten, in Betrieben oder in den Verwaltungen: Wird jemand nicht befördert oder gar entlassen, wird zuallererst nicht danach gefragt, ob er vielleicht schlechte Leistungen erbracht hat, sondern nach seiner Hautfarbe. Ist der Betreffende weiß, ist er ein Opfer von Affirmative Action. Umgekehrter Rassismus!, schreit die weiße Minderheit (nicht immer zu Unrecht). Ist er schwarz, ist er mit Sicherheit ebenfalls Opfer: wegen der schlechten Schulbildung zu Apartheidzeiten, eines weißen Chefs, der Strukturen des Großkapitals in Südafrika. Rassismus, hält dem dann die schwarze Mehrheit (ebenfalls nicht immer zu Unrecht) den Weißen entgegen.

Tatsächlich zum Opfer werden ironischerweise derzeit jene Weißen, die schon zu Apartheidzeiten mit dem ANC sympathisiert haben – die aussterbende Spezies der weißen Linken. Kritische weiße Journalisten, die es immer schon waren, werden aus dem staatlichen Rundfunk SABC hinausgeekelt, weißen ANC-Mitgliedern in Verwaltung und Regierung geht es oft nicht besser.

Jüngstes Beispiel ist die Witwe des ANC-Veteranen Joe Slovo, Helena Dolny. Die Geschäftsführerin der Landbank wurde von einem neidischen, aber einflussreichen schwarzen Mitarbeiter so lange als Rassistin gemobbt, bis sie ihren Hut nehmen musste. Ihr einziges Vergehen war, sich und drei anderen ein zugegebenermaßen allzu üppiges Jahressalär bewilligt zu haben. Mit Rassismus hatte das, so befand eine Untersuchungskommission, nichts, gar nichts zu tun. In ihrem Zorn leistete Dolny sich jedoch eine unverzeihliche Dummheit: In einem TV-Interview sprach die ansonsten eher kühle Ökonomin von „ethnischer Säuberung“, gerichtet gegen die „weiße Linke“.

Hohntriefend fallen nun die schwarzen Kommentatoren über sie her. „Südafrika hat einen neuen Stamm, die weiße Linke – oder besser gesagt, eine neue ethnische Gruppe, um politisch korrekt zu sein“, ätzt Mathatha Tsedu, einflussreicher schwarzer Kommentator. Ob Dolny damit etwa einen Vergleich zum Völkermord in Ruanda oder gar zum Holocaust ziehen wollte, verdächtigt ihn eine schwarze Journalistin. Von der nun hitzig debattierten Frage, ob Weiße links sein können oder es jemals waren, ist es nicht weit zu einer grundsätzlicheren Frage, die seit Monaten nicht minder leidenschaftlich diskutiert wird: Dürfen, sollen, können Weiße Afrikaner sein?

Allen voran träumt Präsident Mbeki von einer „Afrikanischen Renaissance“ für den gesamten Kontinent. Was ein Afrikaner ist, ließ er in seinem gleichnamigen Buch aber (mit Absicht?) offen. Der streitbare (weiße) Journalist Max du Preez indessen, kürzlich aus dem SABC vergrault, wagte es, dem Staatsoberhaupt indirekt Rassismus vorzuwerfen. Mbeki, so du Preez, müsse aufhören von Afrikanern zu sprechen, wenn er nur Schwarze meine. Schließlich seien doch auch Weiße, Inder und Mischlinge in Südafrika Afrikaner: „Doch warum definieren Mbeki und andere schwarze Südafrikaner Afrikaner so, dass ein kleines Detail wie geringere Pigmentierung mich davon ausschließt?“

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem Titel „Können Weiße wirklich Afrikaner sein?“ kanzelte die (schwarze) Erziehungwissenschaftlerin Thobeka Mdu, nicht zufällig zugleich Vorsitzende der von Mbeki ernannten „Kommission für Afrikanische Renaissance“, du Preez und Gleichgesinnte ein für alle Mal ab. Die weißen Abkömmlinge der Europäer hätten kein Recht, den Afrikanern Vorschriften zu machen; dies hätten sie schließlich seit Jahrhunderten getan und dabei stets darauf bestanden, eben nicht Afrikaner zu sein.

In anderen Teilen Afrikas, die oft ähnliche Fragen schon vor dreißig Jahren diskutiert haben, stößt die Debatte nur auf Kopfschütteln. Oder, wie John Mathsikiza, südafrikanischer Filmemacher und Kolumnist, nach einer Reise „ins wahre Afrika nördlich des Limpopo“ anmerkt: „Dort, in Afrika, ist das Thema überhaupt keines. Da gibt es Afrikaner, Siedler, Einwanderer und Besucher. In einigen Ländern gibt es auch noch Inder und Libanesen, die eben in Afrika geboren sind.“

Der Präsident indessen gab vorerst im Sinne der Versöhnung seines Vorgängers Nelson Mandela nach. „Afrikaander (so nennen sich die Nachkommen der holländischen Siedler) sind Afrikaner“, versicherte Mbeki ausgerechnet vor dem erzreaktionären Afrikaanderbund. Er selbst hatte sich schon vor Jahren, als der ANC noch verboten war, gegenüber einer Gruppe von burischen Intellektuellen als Afrikaander bezeichnet. Eine Dialektik, die nur Südafrikaner verstehen.

Kordula Doerfler, 38, Journalistin in Johannesburg, schreibt für die taz und den Evangelischen Pressedienst