Vitrine der Urbanität

Komplexe Arbeit an der Stadt: Die Berliner Architektur braucht tragfähige Netze anstelle individueller Geistesblitze. Erster Teil der Serie „Arche WB“ ■ Von Gerwin Zohlen

Es ist ja nicht immer das Klügste, was andere über einen berichten. Zur Kenntnis nehmen sollte man es aber. So konnten die Engländer im letzten Jahr anlässlich der Reichstagsweihe im Guardian lesen, dass Berlin der Welt „außer sporenklingenden Militärparaden, dem Anzetteln von aggressiven Kriegen und homosexuellem Kabarett“ wenig hinterlassen hat. Gespenster spuken der Daily Mail zufolge in Berlin, und der „sumpfige, preußische Boden“ gebäre „Bazillen“, die immer bereit sind, „das Volk erneut mit deutschem Militarismus“ zu infizieren.

Fast gewinnt man den Eindruck, dass die geschätzten englischen Auslandskorrespondenten ihr Berlinerisches Weltbild vornehmlich in Kreuz- oder Prenzlauer Berg und Friedrichshain recherchiert haben, aber den Gendarmenmarkt mit seinen clubbable Lokalen und Bars sowie die libertären Szenen von Wilmersdorf und Charlottenburg mieden. Sonderbar vereint sind im Ausland aber die sonst so rastlos zerfallenen und voneinander enttäuschten Berliner Geschwister aus ehemals Ost- und Westberlin, die vor zehn Jahren glücklicherweise von der politischen, wenn auch nicht von der mentalen Landkarte verschwanden. Im Guardian heißt es, dass Berlin die Stadt sei, in der „die Geschichte aus jeder Pore hervorquillt, wo sich in jeder Spalte des Straßenpflasters Monster verbergen“. Ob diese Monster und Gespenster nun aber sozialistisch, nationalistisch, alternativ, nur deutsch oder vielleicht auch Bruno Flierl oder Peter Conradi heißen, zählt hier gleich viel.

Große Chance fürs Neue wurde vertan

Allenthalben schließen sich die englischen Korrespondenten dem weltweit unisono geäußerten Urteil an, wenn es um Berliner Architektur und Städtebau der letzten zehn Jahre geht, um Potsdamer Platz, Friedrichstraße oder Spreebogen: Glitzernder, kommerzieller Schmock sei hier produziert worden, schnaubt es aus den weltstädtischen Logenplätzen, die große Chance fürs Neue wurde vertan. Urban Entertainment Centers mit Steintapeten und Lochfassaden überall, Bürohäuser und lange Straßenfluchten, grässlich geradezu und entsetzlich, von öder Langeweile. Werner Durth, Architektursoziologe in Stuttgart, staunte nicht schlecht, als er für den Deutschen Architekturpreis letztes Jahr neben dem Jüdischen Museum gleich noch vier weitere Berliner Projekte erstplatzieren musste. Wie alle Welt lobte er übers Maß die zerkerbte, durchstoßene, geritzte und zerschnittene Haut des Museums, erwähnte aber das zerrüttete Kreuzberger Quartier, in dem es steht, kein einziges Mal. Insgesamt wirkte es, als könne er gar nicht glauben, dass hier im östlichen Jenseits der Elbe außer Wanze und Malaria noch städtisches Leben wohnt.

Unweigerlich überlegt man sich dann, ob solche Kritiker eigentlich aus Städten stammen – Barcelona, New York oder Stuttgart –, in denen das formale Manna der Architektur nur so vom Himmel fließt. Und zählt man die kleine Handvoll Gebäude zusammen, die allgemein vom Verdammungsurteil ausgenommen werden – Jüdisches Museum, Reichstagskuppel, IHK/Börse Fasanenstraße und Frank O. Gehrys Haus am Pariser Platz –, dann scheint Daniel Libeskind höchstselbst seine E-Mail-Maschine angeworfen zu haben, um die Kritiker zu unterweisen. Passgenau zumindest entsprechen sie dem von ihm hoch gehaltenen Kanon eines „wind of change“, der in der übrigen Stadt offensichtlich nur als Afterluft angelangt ist.

Doch ist das richtig – mal ganz abgesehen von der Frage, ob es auch fair ist? Keiner der Kritiker und Architekten, von denen die Kritik inspiriert ist – neben Libeskind etwa Lord Richard (Rogers) aus London, Rem Koolhas aus Rotterdam oder Richard Meier und das alte Chamäleon Philip Johnson aus den USA –, hat bislang den Beweis antreten müssen, mit einer aufs Singling-out, wie die Amerikaner sagen, einer aufs individuelle Markenzeichen gerichteten Architektur einen städtischen Restrukturierungsprozess zu tragen, wie er in Berlin nach dem notorischen Mauerfall 1989 nötig wurde. Der bezog sich ja nicht nur auf die Innenstadt, wenn sie auch im Zentrum des allgemeinen Publikums- und Wirtschaftsinteresses stand, sondern griff nach Karow und Buch im Norden, mit Plattensanierungen nach Hohenschönhausen und Marzahn im Osten, mit Umbauten und Trading-Up’s in den mittleren Westen der Stadt – und dann auch noch unter die Erde mit einer fälligen Reparatur des riesigen Leitungsnetzes für Abwasser oder Telefon.

Das alles ist bis zum Abwinken durchgehechelt. Natürlich ist nicht alles Gold, was dabei entstand. Aber die komplexe Arbeit an der Stadt ist wohl nie wirklich ins kritische oder produktive Bewusstsein gedrungen. Das gegenwärtige Bewusstsein wird auch gegenüber Architektur nach dem gängigen Mythos des individuellen Kunstgenies und seiner wundervollen Gaben beherscht; als wäre alle Architektur von Borromini oder Schinkel. Es richtet sich stets nur auf das einzelne Fertigprodukt; ob aus taktischem Kalkül oder Denkfaulheit ist schwer zu entscheiden. Und in aller Regel muss das einzelne Urteil unter solchem Wahrnehmungsdruck zusammenbrechen, da nicht jeder Architekt der Stadt ein Gründgens oder Picasso seines Fachs sein kann. Und zu fragen bleibt darüber hinaus, ob es denn wünschenswert sein kann, eine Stadt nur aus Schinkels und Corbusiers zu haben? Architektur und Städtebau sind keine Theaterpremieren, bei denen man nach Durchfall oder Erfolg die Kulissen schnell wieder beiseite räumen kann. Sie bleiben ziemlich heterogen durchsetzt und verlangen vielmehr nach Struktur und tragfähigen Netzen denn nach individuellen Geistesblitzen.

Westberliner Orte der sozialen Improvisation

Und Berlin und seine Lebenslügen? Sie liegen eben in der Verkennung dieser komplexen Arbeit an der Stadt, die hier in den letzten Jahren geleistet wurde. Westberlin war zu Zeiten seiner Existenz vieles: Schaufenster des Westens, Fluchtburg von Wehrdienstunwilligen, Stadt am Tropf und in vielerlei Hinsicht Kulturblase der Nation. Westberlin bot etwas, was heute von vielen wehmütig und mit einer guten Portion Melancholie erinnert wird – eine gelassene und poröse, versierte und in den zerbeulten Hosen der Vergangenheit gleichwohl elegante Urbanität. Die hatte keine der lieben Konkurrentinnen und Mutterstädte zu bieten, ob sie nun Hamburg oder München, Stuttgart oder gar Bonn hießen. Und sie zeigte sich unangestrengt, fast nachlässig, ob am Charlottenburger Spreeufer oder in den Kneipen des Kreuzberger Exils, am Schlachtensee oder in der Schaubühne. Das waren Orte einer – sozialen! – Improvisation, wo sich einfache Leute mit den wenigen Bürgern der Stadt vermischten. Und von der Anzahl solcher Orte hängt der Wert der Städte schließlich ab.