Der Weg zur Zweitsprache ist weit

■ Längst träumt die Industrie im Zeitalter der Globalisierung von bilingualen Mitarbeitern, doch die Realität hinkt hinterher. Eine Fremdsprache ist eben noch lange keine Zweitsprache. Und an bilingualen Lehrern mangelt es auch

Englisch ist keine Fremdsprache mehr! Dieser Überzeugung ist zumindest Reinhard F. Leiter von der Allianz-Versicherungsgruppe in München. Leiter organisiert internationale Kongresse und ist der Meinung, dass dem Englischen inzwischen der Status einer Zweitsprache zukomme: „Ohne Englisch hat man in Zeiten der Globalisierung keine Überlebenschance“, meint er. Die Allianz stelle seit Jahren nur noch Menschen mit guten Englischkenntnissen ein. So verwundert es auch nicht, dass Leiter seine Tochter auf ein Europäisches Gymnasium in München schickt: Dort sind nicht nur drei Fremdsprachen Pflicht, auch ihren Geschichtsunterricht absolviert sie in englischer Sprache.

Durch die Internationalisierung des Schul- und Bildungswesens gewinnt der zweisprachige Unterricht an Deutschlands Schulen immer mehr an Bedeutung. Eine Vorreiterrolle hat Bayern übernommen: Dort bieten 23 Gymnasien deutsch-englische, deutsch-französische oder deutsch-spanische „Züge“ an. Nach einer zweijährigen Vorbereitungsphase mit zwei zusätzlichen Stunden landeskundlicher Konversation setzt der eigentliche zweisprachige Unterricht in Sachfächern wie Chemie, Erdkunde oder Geschichte ein. Auch einige Realschulen haben nachgezogen und beginnen ab Jahrgangsstufe sieben mit verstärktem Englischunterricht, um auf den späteren Sachunterricht vorzubereiten. Die Fremdsprache soll zur Arbeits- und Fachsprache, also de facto zur Zweitsprache werden.

Im Rahmen des Europäischen Einigungsprozesses gibt es seit zehn Jahren Bemühungen um verstärkte bilinguale Erziehung in den Schulen. Bundesweit laufen zahlreiche Modellversuche, bisher vor allem an Gymnasien, aber auch zweisprachige Grundschulen existieren bereits.

Ein Schwachpunkt liegt nach wie vor in der Lehrerausbildung: Die Befähigung zum fremdsprachlichen Unterricht wird in den Prüfungsordnungen der Länder nicht verlangt, nur einzelne Universitäten wie die Bergische Universität Wuppertal bieten ein Zusatzstudium unter dem Titel „Bilingualer Sachfachunterricht“ an.

Doch ein guter Englischlehrer kann nicht plötzlich eine Geschichtsstunde aus dem Ärmel schütteln, ein guter Geschichtslehrer nicht plötzlich auf Englisch unterrichten. „Es bringt überhaupt nichts, wenn ein Lehrer sich durch komplexe Sachzusammenhänge in einer nicht richtig beherrschten Sprache quält“, konstatiert der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen von der Freien Universität Berlin. Deswegen gebe es schlicht nicht genug Personal für den bilingualen Unterricht.

Und das, obwohl auch an der Universität nicht nur immer mehr Studiengänge in englischer Sprache angeboten werden und auch die Fachlektüre immer öfter Fremdsprachenkenntnisse erfordert.

So hängt das Gelingen der schulischen Pilotprojekte oft vom guten Willen der Lehrer ab. Jörg Wiatrowski, Lehrer im Berliner Bezirk Tempelhof, unterrichtet Erdkunde in englischer Sprache. Der studierte Germanist und Anglist hat sich sein Konzept selbst erarbeitet, ein angebotener Fortbildungskurs hatte sich als Flop erwiesen.

Auch bei der Beschaffung der Unterrichtsmaterialien gilt es, Hürden zu überwinden. Die Schulbuchverlage bieten nur Vereinzeltes an, den Lehrplänen der jeweiligen Bundesländer angepasste Schulbücher lohnen sich aufgrund der nur vereinzelten Nachfrage wirtschaftlich nicht.

Mit dem Erfolg seines Projekts ist Wiatrowski bisher zufrieden, „Das Hör- und Sprachverständnis der Schüler hebt sich deutlich von dem der regulären Klassen ab.“ Allerdings gebe es noch keine offizielle Evaluation der Unterrichtsergebnisse, wie überhaupt die wissenschaftliche Begleitung des Projekts noch in den Anfängen stecke.

Die Teilnahme an bilingualen Unterrichtseinheiten ist freiwillig, was nach Wolfgang Mitter vom Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung auch möglichst so bleiben sollte: „Man muss im Einzelfall die Sprachbegabung des Kindes untersuchen“, so Mitter, ansonsten drohe heillose Überforderung: „Das Kind darf nicht aus Gründen einer später vielleicht anstehenden Karriere von den Eltern gezwungen werden.“

Es könne nicht der Sinn des eigentlich positiven Anliegens sein, dass Schüler am Ende weder die Muttersprache noch die Zweitsprache richtig beherrschten, deswegen sei gerade an den Hauptschulen ein vorsichtiger Umgang mit bilingualem Unterricht geboten: „Die Entwicklung des Englischen zur Zweitsprache ist sicherlich ein soziales Phänomen. Das heißt aber nicht, dass dies pädagogisch unmittelbar umzusetzen ist.“ Mitter betont, dass ein erfolgreicher bilingualer Unterricht neben sprachbegabten Kindern ebensolche Lehrer und ein förderndes Elternhaus voraussetzt. Erforderlich ist offenbar ein allgemeines Klima der Verständigung, eine Sensibilisierung für die Bedeutung von Sprache, wie sie für den Umgang mit Computern bereits entstanden ist. Dem entgegen stehen nicht zuletzt nationalistische Motive.

Während zu Zeiten des Vielvölkerstaates der Habsburger Monarchie bereits bilingualer Unterricht praktiziert wurde, tun sich viele europäische Staaten immer noch schwer mit Fremdsprachen. Nach den Musterknaben der skandinavischen Länder und den Niederlanden folgt Deutschland irgendwo im Mittelfeld, die süd- und osteuropäischen Staaten bilden das traurige Schlusslicht in puncto Fremdsprachenbeherrschung.

Weltweit gibt nur ein Viertel der Nationen zwei offizielle Sprachen an, und das bei 5.000 koexistierenden Sprachen in weniger als 200 Ländern.

Der Weg zur wirklichen Bilingualität durch (Schul-)Erziehung ist demnach noch weit. Und es steht zu erwarten, dass auch weiterhin nur die wirklich bilingual sind, die zweisprachig aufgewachsen sind. Martin Reichert