Waffen für das Ganze

Besser gemeint als gemacht: Die ersten drei Theaterpremieren an der Berliner Schaubühne konnten das Verhältnis von Politik und Theater nicht neu definieren ■ Von Christiane Kühl

„Die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele der Herren Professoren sich einbilden“, behauptete Otto von Bismarck im vorletzten Jahrhundert, „sie ist eine Kunst.“ Die Erkenntnisse der letzten Wochen deuten darauf hin, dass es sich im späten 20. Jahrhundert hierbei in erster Linie um eine Kunst des Vergessens handelte. Wird sie in Deutschland auf strukturelle Probleme in der Auslegung des eigenen Terminkalenders zurückgeführt, lässt sich der politische Blackout in Österreich nur mehr als intellektuelle Anästhesie erklären.

In der Kunst der Vergegenwärtigung übt sich seit 14 Tagen die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Vergegenwärtigt werden soll hier in erster Linie die Gegenwart: Ist sie auf der Bühne, ist Politik, so das simple Credo ihrer jungen künstlerischen Leitung. Auf die Wissenschaft wollte man jedoch auch nicht verzichten, weshalb schon vor der ersten Inszenierung am Haus eine Hand voll Thesen publiziert wurde über das So-Sein der Welt (blind und dumm) und die Möglichkeiten ihrer Veränderung durch das Theater (bewusstseinsfördernd, ergo gut). Mit der breiten Veröffentlichung des Anspruchs, „Wirklichkeiten zu begreifen und zu refigurieren“, hat sich das Team um Thomas Ostermeier, Sasha Waltz, Jens Hillje und Jochen Sandig den Einstieg in die Kathedrale am Ende des Ku’damms nicht eben leichter gemacht. Es war abzusehen, dass schon die ersten Schritte mit ihren eigenen Worten seziert werden würden. Und Tatsache ist, dass zwei Wochen, zwei Uraufführungen und zwei Premieren später die fiese Gegenwart noch ganz die alte ist und nicht einmal das Theater refiguriert wurde.

Am Donnerstag, bei der Uraufführung von Soeren Voimas „Das Kontingent“, konnte man zumindest am Anfang noch daran glauben. Auf Jan Pappelbaums wie frei schwebend wirkender Bühne, deren hinterer Teil durch ein Podest erhöht ist, stehen zehn Stühle akkurat in Reihen platziert, dahinter zehn blaue Fahnen mit dem Symbol der vereinigten Staatengemeinschaft. Schauspieler treten nacheinander auf und stellen sich dem Publikum fast in schönster Live-Art-Tradition direkt und unprätentiös mit erfundenen Biografien vor: Da ist Uwe, den am Kontingent vor allem die Auslandseinsätze gereizt haben, weil er halt ein Reisetyp ist; Johannes, der früher für amnesty international arbeitete, irgendwann aber keinen Sinn mehr darin sah und sich deshalb der internationalen Friedenstruppe anschloss; ein Wirtschaftstyp, der weiß, dass es nicht ums Geld allein geht, und eine junge Frau, die mit demselben korrekten Lächeln wie die anderen neun Blauhelme von ihrer Pflicht, Beweismaterial in den Krisengebieten der Welt zu sammeln, berichtet, obwohl das „doch schon ganz schön unangenehm“ ist. Verbunden sind sie in der imperialistischen Hoffnung, „Waffen erstmals im Sinne des Ganzen anzuwenden“. Chorisch singen sie von einer glücklichen Menschheit, glücklichen Völkern, einem glücklichen Jahrtausend. Gemeint ist das dritte.

Das Regieteam Tom Kühnel/Robert Schuster, das seit dieser Spielzeit das Frankfurter Theater am Turm leitet und mit der Schaubühne weiterhin kooperieren wird, hat ein exzellentes Thema zum Schaubühneneinstand gewählt. Brandaktuell vor dem Hintergrund Sarajevo/Grosny und urdramatisch durch den Konflikt Individuum – Staat. Doch das Stück schöpft dieses weite Feld der Bezüge nicht aus, seltsam steif beharrt es auf nichts als Brecht. „Die Maßnahme“ stand unübersehbar Pate: Wie dort vier Agitatoren dem Kontrollchor erklären, warum sie einen der Ihren ermorden mussten – er hatte während des Aufklärungszuges durch China den Einzelnen geholfen, statt nur an die gerechte Sache für alle zu denken –, so berichtet das Kontingent hier, weshalb es den amerikanischen Kameraden im Kaukasus erschießen musste – er hatte seine Neutralität aufgegeben, um im Einzelfall einzugreifen.

Der junge Kommunist von damals ist der Idealist von heute. Beide sind Gefangene der Gesetze ihrer Organisation, die das Gute diktiert. Wenngleich „Das Kontingent“ die Unmenschlichkeit dieses Rechts und seiner Moral bloßstellt, entspricht es sowohl sprachlich („nicht zu dulden / den Unduldsamen“) als auch formal ganz dem Lehrstück, vom epischen Nachspielen der Erzählsituationen bis zum Lied (Komposition: Matteo Fargion) am Ende jeder Sequenz. Was aber nützt ein schwarzweißes Ausrufungszeichen, um der komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden?

Auch Thomas Ostermeier wirkt bei seinem Versuch, mit der deutschen Erstaufführung von Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ die Gegenwart auf die Bühne zu holen, seltsam gestrig. Zehn Jahre hat der schwedische Dramatiker an seinem Mammutstück über den Aussatz der Gesellschaft geschrieben, hat jeder der Figuren eine Stimme gegeben, aber keiner eine Geschichte. So entstanden „der Alkoholiker“, „die Fixerin“ und „der Obdachlose“ als Abziehbilder, die auf der Bühne zu betrachten so oberflächlich bleibt wie der flüchtige Blick, mit dem man solche Typen auf der Straße streift. Ostermeier lässt sie von jungen Schauspielern spielen, die allesamt eine Eins im Beobachten und Nachfühlen von Ticks verdient haben. Gemeinsam trinken, fixen, fighten und reden sie in Echtzeit vier Stunden aneinander vorbei.

Alles Scheitern ist hier auf je einen Verlust reduziert – Vater weg, Job weg, Traum weg. Die Eindimensionalität – nur selten gebrochen durch surrealistische Choreografien – erinnert an das Jugendtheater der Spätsiebziger. Das ist zu wenig, vor allem für einen wie Ostermeier, der will, dass man ins Theater wie ins Kino geht, „weil einen die Geschichte interessiert“. Würden Obdachlose interessieren, wären sie nicht marginalisiert. Wer sie ins Zentrum setzen will, muss etwas erzählen, was über die Binsenweisheitsperipherie hinausgeht, nicht eine saubere Kopie des schmutzigen Lebens liefern.

Natürlich überrascht es nicht, dass Ostermeier mit seiner ersten Inszenierung an der Schaubühne einen Reigen von Outcasts auf die Bühne bringt. Wohl aber überrascht die Hoffnungslosigkeit, mit der die Charaktere sich in ihr Schicksal ergeben. Der Wille, zurückzuschlagen, fehlt völlig, der britische Loser-Hipness-Quotient ist gestrichen. An jugendliches Aufbegehren erinnern höchstens eingespielte Songs von den Stones zu Nirvana, die der Form nach kulinarische Schnipsel sind.

Als solche finden sich auch David Byrne und die Red Hot Chili Peppers in der „Ubu!“-Inszenierung von Barbara Frey wieder. Frey ist als Hausregisseurin in erster Linie auf moderne Klassik abonniert. Ihre Interpretation von Alfred Jarrys Farce auf die Dummheit der Macht ist dicht und hübsch, jedoch weder Macht noch Dummheit noch Theater bewegend. Im Rahmen der Neueröffnung der Schaubühne ist die puppenstubenhafte Produktion sicher die unspektalulärste. Obwohl sie programmatische Wahrheiten birgt. „Wir müssen mindestens eine Million Knoten machen“, schätzt Ubu die Geschwindigkeit der eigenen Bewegung, „und das Gute an diesen Knoten ist, dass sie sich nicht mehr entknoten lassen, wenn sie einmal verknotet sind.“

Mit drei Theater- und einer Tanzpremiere ist an der Schaubühne ein neuer Anfang gemacht, daran ist nichts zu knoten. Gemessen am Versprechen und der Hoffnung auf eine energiegeladene Neudefinition des Verhältnisses von Politik und Theater war er enttäuschend. Es schien, als seien alle hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben. Vielleicht war der Druck von außen zu groß, vielleicht hat das immense Haus überfordert, vielleicht war der Neustart der Beginn einer Bewegung, die ihren Weg erst finden muss. Bis jetzt steht nur fest, dass sie mit etwa einer Million Knoten voranschießt – bis zum Sommer sollen acht weitere Stücke im Haus produziert werden.