Leiden im Minirock

■ In Russland wird die Lyrikerin Alina Wituchnowskaja als literarische Entdeckung gefeiert. Als Poetin des Schmerzes

Alina Wituchnowskaja lächelt. Ihr schmaler Mund ist so stark geschminkt, dass der Lippenstift seine Spuren an der Kaffeetasse hinterlässt. Jedes Mal, wenn die Lyrikerin aus Moskau einen Schluck nimmt, hält sie das lange Haar fest, das ihr blasses Gesicht mit den hohen Wangenknochen umrahmt. Danach lässt sie das Haar wieder fallen und schiebt eine Sonnenbrille vor die Augen. „Ich finde mich nicht schön“, sagt sie. Das Gesicht zu rund, die Beine zu kurz, die Figur zu dick – und überhaupt.

„Missgeburt. Brut einer Mutter“, heißt es in einem von Wituchnowskajas Gedichten. Alina Wituchnowskaja fürchtet das, was kommt. Deshalb will sie auch nicht älter werden. Geboren wann? Egal. Keine Jahreszahlen, keine Altersangaben, fehlt nur noch der gefälschte Pass. Den zeigt Alina Wituchnowskaja nur, wenn sie über die russische Grenze muss. Leider sind für sie solche Grenzübergänge selten: „Russische Literatur ist in Deutschland gerade nicht so aktuell“, teilte ihr eine Verlegerin neulich mit. Weshalb auch Wituchnowskajas Gedichte bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. In Russland aber wird Alina Wituchnowskaja von der Literaturkritik als „Entdeckung“ gefeiert – als Poetin des Schmerzes, deren Texte von einer „kraftvollen Energie“ geprägt sind.

Vom zerstäubten Ich handeln die Gedichte, vom Tablettenschlucken und von verkehrter Wirklichkeit, vom Alleinsein und von jagenden Mördern, von Gleichgültigkeit, Krankheit und Tod: „Beim Morgenkuss musste ich Mutters Spucke ertragen. Der Teig schwoll an, er stand unter der Heizung. Ich dachte, das ist Ton. An leeren Tagen hatte ich Angst vor dem Tod, der mich andererseits reizte.“ Existenzielle Poesie, geschrieben von einer jungen Russin, die mit 19 ihr Debüt gab und über deren Alter bis heute alle Zeitungen spekulieren. 24, 25 oder 26? Die Presse rätselt, seit Alina Wituchnowskaja Anfang der Neunzigerjahre wegen Drogenhandels insgesamt anderthalb Jahre in russischen Gefängnissen verbringen musste. Wituchnowskaja wurde vom FSB, dem Nachfolger des KGB, verhaftet, nachdem sie einen Artikel über synthetische Drogen verfasst und man bei ihr angeblich Narkotikum sichergestellt hatte. „Ich bin unschuldig“, sagt sie, „die haben mich festgenommen, weil ich die Namen berühmter Leute wusste, die mit Drogen zu tun haben, und ich nicht mit denen zusammenarbeiten wollte.“

Vermutlich ist schon die Tatsache, in Russland Literatin zu sein, etwas ganz Besonderes. Der internationale PEN-Club engagierte sich für Wituchnowskajas Freilassung, und der Schriftsteller und Vorsitzende der Nationalbolschewistischen Partei, Eduard Limonow, besuchte sie im Gefängnis. Sämtliche Fernsehsender luden sie zu Talkshows ein oder filmten sie während der Gerichtsverhandlung.

Alina Wituchnowskaja hat ihre Auftritte im Moskauer Fernsehen auf einer Videokassette aufgenommen. Ab und zu schaut sie sich sie an – nur um dabei festzustellen, dass sie sich nicht gefällt: „Wie sehe ich denn dort aus!“ Das Motiv vom hässlichen Entlein gegen den Rest der Welt – aber das „Ich kann mich nicht leiden“-Mädchen, das sie mimt, ist sie dann doch wieder nicht. Nackt, verhüllt in grünem Pelz posierte sie für eine russische Frauenzeitschrift, und selbst für den Gerichtssaal machte sie sich „schick“. Alina Wituchnowskaja saß in einer Zelle mit nur zwanzig Betten für sechzig Frauen, aber sie kam im schwarzen Minirock. Geschminkt stand sie in einem Käfig und folgte stumm der Verhandlung. „Ich habe diese Auftritte als konzeptuelle Aktion verstanden“, sagt sie, „als Kampf gegen den Kleingeist.“ Wituchnowskajas Philosophie lautet: Die Welt ist ohnehin schlecht. Man muss sich nur gegen sie wehren, und sei es durch Selbstdarstellung.

Kehrt man das Märchen vom Aschenputtel um, hat man ein Abbild der neuen Generation P – P wie Pepsi, die russische Generation X. Wie die deutschen, so haben die russischen Märchen gewöhnlich ein glückliches Ende – doch für die Cola trinkenden Zwanzigjährigen gehen sie meist negativ aus. Keiner beschreibt dieses Gefühl besser als Alina Wituchnowskaja. „Sie schrie: es tut weh, es tut weh, es tut weh“, heißt es in ihrem Gedicht-und-Prosa-Band „Anomalie“, und es klingt pathetisch und prophetisch zugleich.

Schon als Kind spürte Alina Wituchnowskaja diese Hilflosigkeit gegenüber der Realität. „Ich habe begriffen, dass die Welt sich nicht ändert“, sagt sie, „und im Ergebnis dessen wurde sie immer schlimmer und absurder.“ Die Mutter hatte die Familie verlassen, als Wituchnowskaja noch klein war. Sie wuchs bei dem Vater und der Großmutter auf, fing an, die Schule zu hassen, hörte auf zu lesen und schrieb lieber selbst. An einem kleinen Schreibtisch in der Leningradskoje-Chaussee verfasste sie ihre ersten Gedichte und fand damit eine schnell wachsende Leserschaft, in der Jugendszene avancierte sie zur „Kultautorin“. Die Roten Sterne, eine Rockgruppe aus Minsk, vertonten ihre Texte, und die russische Literaturkritik verglich sie mit Joseph Brodski und hob sie sogar über Wladimir Majakowski – jenen Futuristen, der einst für den Kommunismus dichtete.

Was will man mehr? Eigentlich läuft alles bestens. Trotzdem wirkt Alina Wituchnowskaja unzufrieden. Vielleicht weil sie gern schöner wäre. Oder weil der Rubel nicht so richtig rollt. Denn da, wo große Dichter hervorgebracht wurden, scheinen die Gedichte nun ebenso unterzugehen wie der sowjetische Kolchos: Alina Wituchnowskaja gibt ihre Bücher selbst heraus und wohnt noch beim Vater. Ihre Nächte verbringt sie mit jungen Leuten, die sie dafür bezahlen, bei ihr und ihrer Lyrik sein zu dürfen. Katja Hübner