Fanale der Dekonstruktion

Bruno Ganz spaziert nachdenklich durch Zeitlöcher: Videoinstallationen des französischen Konzeptkünstlers Pierre Huyghe in der Kunsthalle Zürich ■ Von Gabriele Hofmann

Gefragt wird nach Bedingungen und spezifischen Formen der Transformation von Wirklichkeit im Film

Seit Jahren wächst die Zahl der KünstlerInnen, die mit Videoarbeiten die Bildsprache des Films reflektieren. „Moving Images“ war in den letzten Jahren ein beliebtes Thema für Gruppenausstellungen, ob bei „Wild Walls“ in Amsterdam, „Cinéma Cinéma“ (Eindhoven), „Ghost Story“ (Wien), „The Cinema Project“ (Berlin) oder „Film – Reflexion in der Kunst“ in Leipzig. Die Kunsthalle Zürich zeigt jetzt in einer Einzelausstellung vier jüngere Videoprojektionen von Pierre Huyghe, dazu seine simultane Diaprojektion „Searching for an Unknown Person“ und als Ouvertüre Farbfotografien, in denen Billboards ihre urbane Umgebung spiegeln.

Gemeinsamer Nenner der für Zürich ausgewählten Videoprojektionen ist die Untersuchung filmischer Produktionsmechanismen. An dem 1929 produzierten Kinofilm „Atlantic“ von E. A. Dupont demonstriert Huyghe das mit dem Tonfilm aufgekommene Sprachproblem, indem er die drei existierenden Fassungen in Englisch, Französisch und Deutsch simultan an eine Wand projiziert. Bis zum Aufkommen der modernen Synchronisationstechnik musste ein Film für jede sprachliche Version Szene für Szene mit ausgewechselten Schauspielern in der Muttersprache neu gedreht werden. Der Reiz des Triptychons „Atlantic“ liegt in der Vielfalt voneinander abweichender Details, die sich zu national gefärbten „Interpretationen“ summieren. Die konzeptuelle Entscheidung zur Parallelprojektion hat genügt, das Filmepos vom Untergang der Titanic in ein Fanal der Dekonstruktion zu verwandeln.

„Dubbing“, der englische Ausdruck für Synchronisation, wird von Huyghe als Titel für eine zweistündige Videoprojektion verwendet. Es gibt in „Dubbing“ eine einzige Einstellung: der frontale Blick auf eine Gruppe von fünfzehn Zuschauern, die einen für uns nicht sichtbaren Film verfolgen. Man hat also viel Zeit, sich auf individuelle Gesichter und Körpersprachen zu konzentrieren. Minutenlang sitzen die Leute unbewegt da, bis Einzelne sich durch lautes Sprechen, Schreien und erregtes Gestikulieren aus der Gruppe lösen. Die Aufmerksamkeit des Ausstellungsbesuchers ist dabei von Versuchen absorbiert, aus dem Gesehenen und Gehörten die im Video ausgesparte Filmhandlung zu rekonstruieren. Erst mit der Wahrnehmung des eingeblendeten Textes als Wiederholung des Gesprochenen wird ihm bewusst, dass die Gruppe den Film für ihn zwar kommentiert, in Wirklichkeit aber synchronisiert.

Die reale Arbeitssituation der Synchronsprecher, die hier wie Zuschauer in einem Kino neben- und hintereinander sitzen, verwandelt sich in einen Film. Die Durchmischung der Realitätsebenen von Darsteller, Synchronsprecher und Zuschauer ist in dieser Videoprojektion ebenso grotesk übersteigert wie die zeitliche Ausdehnung auf Spielfilmlänge. Anders als bei dem sich in üppiger Visualität erschöpfenden „Atlantic“-Triptychon (1997) führt in „Dubbing“ (1996) der leitmotivische Begriff Synchronisation in die Reflexion. Gefragt wird nach den Bedingungen und den spezifischen Formen der Transformation von Wirklichkeit im Film.

Das Melodrama „Blanche-Neige Lucie“ produzierte Huyghe 1997, kurz nachdem Lucie Dolène einen Prozess gegen Walt Disney gewonnen hatte, weil ihr der Konzern die Autorenrechte an ihrer Stimme über Jahre verweigerte. In der eisigen Atmosphäre eines leeren Filmstudios trällert die etwa siebzigjährige französische Sängerin ihr Schneewittchenlied: „Wenn mich mein Prinz erst küsst ...“. Parallel dazu erzählt sie im eingeblendeten Text ihre Geschichte als Schneewittchen: Es beginnt 1938 auf einem Schulfest und endet damit, dass sie ihre eigene Stimme, die sie in den Fünfzigerjahren an Disneys Schneewittchen verliehen hatte, als fremde, als synchronisierte erlebt.

Aus Wim Wenders Filmklassiker „Der amerikanische Freund“ mit Bruno Ganz in der Hauptrolle wählte Huyghe zwei an verschiedenen Orten spielende Szenen, die im Film nur ein Schnitt trennt. Der Bruch wird in der Videoprojektion durch eine eingeschobene Filmsequenz überbrückt. Wir sehen den um zwanzig Jahre gealterten Bruno Ganz, wie er sein Hotel in Paris/La Defense verlässt und mit zuerst zügigem, später nachdenklich verlangsamtem Schritt die Seine überquert. Vorausgegangen ist die Originalszene, in der der Hauptdarsteller in seinem Hotelzimmer per Telefon einen Mordauftrag empfängt. Auf den die Realität einblendenden Spaziergang folgt die zweite Originalszene, das Treffen von Auftragempfänger und Auftraggeber.

Indem der in Echtzeit gedrehte Einschub das fehlende Stück des Erzählfadens nachliefert, durchschneidet er die zeitliche Struktur, in der das gelegentliche Fadenverlieren eine ästhetische Funktion hat. Der Kinobesucher ist gewohnt, „Zeitlöcher“ zwischen fiktiven Sequenzen mit Bildern seiner Vorstellung zu füllen. Wie schon der filmtechnische Terminus „L’Ellipse“ als Titel dieser 1998 entstandenen Videoprojektion ankündigt, zielt Huyghe auf die Offenlegung der filmischen Erzählstruktur. In „L'Ellipse“ verlässt der Hauptdarsteller sein hypothetisches Leben für kurze Zeit, um es in Realzeit fortzusetzen. Das Ausgreifen der Fiktion in die Wirklichkeit ist für Pierre Huyghe keine verkehrte Welt, sondern Spiegelbild des wirklichen Lebens, in dem Träume und Erinnerungen die gleiche Funktion haben wie die subjektiven Konstruktionen, mit denen wir Filmlöcher stopfen. In Zürich werden die Videoprojektionen in mehreren von einander getrennten Räumen vorgeführt. Das erlaubt die ungestörte visuelle und akustische Wahrnehmung. Dabei wird deutlich, dass die Qualität der Arbeiten von Pierre Huyghe in der Übereinstimmung von bildnerischer und konzeptueller Ökonomie liegt.Bis 12. 3. 2000., Kunsthalle Zürich. Der Katalog kostet ca. 43 DM.