Eine Gewehrsalve als Antwort

■ Eine Tschetschenin, die nach Inguschetien flüchtete, schildert, wie russische Truppen die Zivilbevölkerung Grosnys quälen und ermorden. Die Devise lautet: Wir brauchen keine Zeugen

Diesen Augenzeugenbericht veröffentlichte Achmet Barichojew, Mitarbeiter von Memorial in Inguschetien, Anfang Februar. Zu Wort kommt die 37-jährige Elena G., die bis zu ihrer Flucht letzten Monat im Bezirk Staropromyslowsk der tschetschenischen Hauptstadt Grosny lebte.

„Am 19. Januar wurde ich an beiden Beinen und an den Rippen durch Splitter verletzt. Dies geschah beim Vorrücken der russischen Truppen in die Neftjanaja-Straße. Mit zwei Russinnen, zwei Tschetschenen und einer Ukrainerin saß ich im Keller. Am 19. Januar wurde unser Wohngebiet besonders heftig beschossen. Irgendwann war der Beschuss zu Ende – wir hörten eine russische Stimme.

Wir schrien, um uns bemerkbar zu machen und weil wir hofften, dass man dann nicht auf unseren Keller schießen würde. Die Antwort war eine Maschinengewehrsalve direkt in Richtung unseres Kellers. Wir haben sie angefleht, nicht auf uns zu schießen. Doch unsere Bitten interessierten die Soldaten wenig. Sie kamen auf unseren Keller zu.

Dort angekommen, forderten sie uns auf, den Keller mit erhobenen Händen zu verlassen. Einer der Soldaten hatte eine Handgranate in den Händen. Er lachte und warf die Handgranate in das Fenster des Nachbarhauses. Ich war bereits verletzt und bat die Soldaten um ärztliche Hilfe. Als Antwort warf mir einer von ihnen ein Päckchen Verbandszeug vor die Füße – als ob ich ein Hund wäre.

Wir holten unsere Pässe, um uns auszuweisen. Aber unsere Pässe interessierten gar nicht. Dann nahmen sie unser Radio weg. Das ist ein besonderer Verlust für uns, ist doch das Radio unsere einzige Informationsquelle.

Auf all unser Flehen sagten sie immer wieder: „Warum seid ihr denn hiergeblieben. Offensichtlich gehört ihr zu Kampftruppen. Doch heute ist nicht das Jahr 1995. Heute sind wir hier mit dem Befehl, alles was sich bewegt und auf der Erde ist, wegzufegen. Eure Stadt wird nicht wieder aufgebaut werden. Wir werden die Stadt und mit ihr auch euch dem Erdboden gleichmachen.“

Wir berichteten ihnen, unter welchen Bedingungen wir in den Kellern leben müssen, und wollten ihnen unseren Keller zeigen. Aber das interessierte sie nicht. Nun jagten sie uns wieder in unseren Keller zurück. Kaum unten angekommen, fingen sie an, uns mit Granaten zu bewerfen.

Als erstes trafen sie Chava, die als letzte in den Keller zurück gekommen war. Da durch die Granaten starker Rauch entstanden war, wussten wir, dass wir nicht mehr lange in diesem Keller bleiben konnten. Wir flehten sie an, Mitleid mit uns zu haben. Als wir kaum noch atmen konnten, sagten sie uns, dass wir nun wieder heraufkommen könnten.

Als erste ging Ljuda heraus. Nach ihr kam Natascha, dann folgte der tschetschenische Junge. Da ich verletzt war, stützte mich Kosum beim Gehen. Kaum vor der Türe angelangt, schossen sie auf Natascha, Ljuda und den Jungen. Wir kehrten sofort wieder um. Ich hörte noch, wie der eine Soldat zum anderen sagte: „Wieso hast du auf sie geschossen?“ Der andere sagte nur: „Wir brauchen keine Zeugen.“ Dann schossen sie erneut auf Chava und auch auf Natascha, Ljuda und den Jungen, die doch schon tot waren. Kosum drückte mich an die Wand und schützte mich mit seinem Körper.

Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder aufwachte, sah ich Kosum. Aus seinem offenen Kopf war Gehirnmasse herausgespritzt. Ich merkte, dass ich an den Rippen verletzt war. Aus meinem Mund tropfte Blut.

Als es draußen ruhig geworden war, kroch ich bei Einbruch der Dunkelheit barfuß aus dem Keller zum Nachbarhaus. Doch meine Nachbarn hatten Angst, mich in ihren Keller zu lassen. Sie boten mir ihre Scheune an.

In der Scheune erzählten sie mir, dass sie kürzlich zwei Kinder verloren hätten. Einer ihrer Söhne war erschossen worden, als er einen anderen Verletzten habe retten wollen. Maria Gojgowa, eine andere Nachbarin, war Zeugin der Ermordung gewesen. Als die Mutter vom Tod ihrer Jungen erfahren habe, sei sie durchgedreht. Die Soldaten an einem Kontrollpunkt machten sich über die Frau lustig – und erschossen sie, zusammen mit der Nachbarin. Beide hatten fliehen wollen.

Ich hatte mich ebenfalls entschlossen, aus der Stadt zu fliehen. Ich hatte schon sehr viel Blut verloren. So hatte ich keine Wahl: entweder in der Scheune verbluten oder möglicherweise von einem Soldaten an einem Kontrollpunkt erschossen werden. Ich zog mich um, in der Hoffnung, dass man mich so am Kontrollposten nicht erkennen werde.

Am Kontrollpunkt angekommen, wurde ich sogar korrekt behandelt. Die Soldaten versuchten sich zu vergewissern, dass ich auch wirklich keine tschetschenische Kämpferin sei. Und als sie sich sicher waren, dass ich eine Zivilistin bin, ließen sie mich mit dem nächsten Wagen nach Inguschetien. Im Wagen war noch eine Familie. Sie hatten die Leiche einer Frau bei sich.

In Srednie Atschauli angekommen, sagte mir der Fahrer, dass ich nun in einen Bus umsteigen solle. Dieser Bus brachte mich direkt zum Krankenhaus von Slepzowsk.

Ich weiß, dass in Grosny noch sehr viele Zivilisten zurückgeblieben sind. Viele von ihnen wollen die Stadt nicht verlassen, weil sie um ihr Eigentum, ihr Vieh etc. fürchten. Allein in unserem Viertel sind noch 15 Menschen zurückgeblieben, in einem anderen Viertel leben noch zwei Familien: der Vater mit seinem Sohn und ein anderer Mann mit seiner Frau, einer Ukrainerin. In unserer Straße leben im Keller der Familie Chaschiewa sieben Menschen.

Ich habe große Angst, dass der Familie Chaschiewa etwas zustößt. Ich denke, sie sind in Grosny geblieben, weil sie Angst haben vor den Kontrollposten, die sie bei einer Flucht passieren müssen.

Die Soldaten, vor allem die länger dienenden Soldaten, sind sehr grausam zur Zivilbevölkerung. Dabei spielt Alter, Geschlecht, Nationalität für sie überhaupt keine Rolle. Für sie sind alle Einwohner Tschetscheniens Banditen.

In den Straßen von Grosny liegen sehr viele Leichen. Vor fast jedem Haus oder Hof liegt eine Leiche mit aufgeschlitzter Kehle oder Menschen, die durch Maschinengewehrfeuer, Minen etc. umgekommen sind. Häufig werden von der Luftwaffe über der Stadt Vakuumbomben eingesetzt.

Ich habe eine große Bitte an Sie: Bitte teilen Sie meiner Tochter und meinem Vater Witali in Kasachstan mit, dass ich lebe, gesund bin und hier im Krankenhaus behandelt werde. Teilen Sie bitte auch der Familie X mit, dass ihr Bruder Kosum ums Leben gekommen ist. Ich bin mir sicher, dass seine Leiche immer noch in Grosny vor eben dieser Garage liegt, in der wir gesessen haben.“

Übersetzung: Bernhard Clasen