„Dieses plastische Unglück“

■ Das Gerhard-Marcks-Haus zeigt das kleine Werk des großen Wilhelm Lehmbruck aus den relevanten Jahren 1910-19 ziemlich vollständig. Es ist ein Ort der Ruhe

Und immer wieder diese der Schwerkraft ergebenen Köpfe: Entweder sind sie vergrübelt gesenkt (Männer!) oder nachsinnend, manchmal fast hingebungsvoll geneigt (Frauen). Nur jene hübsche junge Frau aus einer Radierung des Katalogbuchs reckt ihre halb geschlossenen Augen verzückt nach oben (oder gen Himmel, wie man der Zeit angemessener vielleicht sagen sollte). Sie rammt sich gerade einen Dolch in die Brust und stammt aus dem Jahr 1918. Ein Jahr später hat sich Lehmbruck selbst getötet. Er entschied sich für Gas.

Obwohl er von den Folgen einer Geschlechtskrankheit geheilt war, konnte ihm sein Arzt hypochondrische Krankhheitsempfindungen nicht austreiben. Wichtigere Ursachen der Depressionen waren aber wohl „die zertrümmerte Welt“ um ihn und in ihm, die „Entfremdung“ von seiner Frau (wie das in Katalogtexten immer so schön heißt) und die unerwiderte Liebe zu einer jungen Schauspielerin. Wundern tut's ja nicht, dass ,so einer' Hölderlin illustrierte. „Herrlicher Göttersohn! da du die Geliebte verloren/ gingst du ans Meergestad.“ Lehmbruck ging weiter. Mit dünnem Bleistiftstrich kritzelte er 1917/18 über dieses Gedicht einen Kriechenden, ein höchst vielseitiges Zentralmotiv.

Zwei Jahre zuvor nämlich lieferte Lehmbruck einen Kriechenden als Wettbewerbsbeitrag für eine Figur des Ehrenfriedhofs seiner Heimatstadt Duisburg (dort ist auch das ihm gewidmete Museum) ab. In diesem „Gestürzten“ (bei einer Ausstellung der Freien Sezession in Berlin auch „Jüngling“ oder „Sterbender Krieger“ genannt) sah ein zeitgenössischer Feuilletonist „ein Gleichnis des rätselhaft Unfaßlichen, das wir Leben, Gott, Weltgeist nennen“, also die Befreiung vom Realismus, ein konservativ Gesonnenerer hingegen ein „plastisches Unglück“ (damals traute man sich nämlich noch zeitgenössische Kunst zu verreißen). Manchen galt Lehmbruck als „Vorhut“ oder „Vorwort des Expressionismus“. Andere schätzten ihn gerade wegen seiner „klassischen“ Art im Gegensatz zum französischen Rabaukentum. Heute gilt der „Gestürzte“ als eine der ganz großen Plastiken der damaligen Zeit.

Da überlebte also einer kunsthistorisch, der nicht auf der Speerspitze der Avantgarde dahinritt – ein eher seltenerer Fall. Joseph Beuys sah in ihm schlicht und einfach den Seelenverwandten – vielleicht nicht zuletzt wegen seiner hauchzart-tas-tenden Bleistiftskizzen. Heute stutzt man schon, wenn Lehmbrucks Introvertierte dem Expressionismus zugeschlagen werden. Ihre amputierten Gliedmaßen wirken oft weniger klassizistisch als schmerzhaft: zur ewigen Bewegungslosigkeit verdammt.

Heute erscheint uns der „Gestürzte“, jener magersüchtige, entkräftet dahinrobbende Mann mit den hervorstehenden Hüftknochen, wie eine Sammelmetapher für alle möglichen Formen der Niedergeschlagenheit, völlig zeitenthoben. Lehmbruck aber ging es wohl um eine mythische Überhöhung des Krieges, wie Arie Hartog vom Gerhard-Marcks-Haus vermutet. Und nach dem Krieg wurde er als Symbol von dessen Sinnlosigkeit verwertet. Diese lustige Vieldeutigkeit einer Geste machte sich Lehmbruck auch selbst zu Nutze. Wie Bach die Goldbergvariationen deklinierte Lehmbruck das Thema „Mutter und Kind“ durch alle Stimmunglagen durch: verzweifelte Flucht, Schutzbieten, der Schmerz der Verantwortung, Innigkeit – alles lässt sich herausdröseln aus jenem Kleinfamilienidyll.

Lehmbrucks Vater war Bergtagelöhner. Erst nach Umwegen konnte der Sohn an der Düsseldorfer Akademie studieren. Die galt als konservativ. Und bis 1910 wird Lehmbruck auch eher für naturalis-tische Qualitäten gerühmt, etwa die Genauigkeit, mit der „der Fingereindruck in dem vorgeschobenen weichen Fleisch der Hüfte dargestellt wurde“. Der Bildhauer lebte in Düsseldorf, Paris, dann Berlin, Zürich, wieder in Berlin mit Frau und drei Kindern vom Verkauf von Porträtbüsten und Grabplastiken und von der Hilfe von zwei Mäzenen. Der eine übrigens ließ sich seine vermeintliche Großmütigkeit durch künstlerische Zwangsabgaben entgelten und trat ansonsten durch Steuerflucht hervor – soviel zu Macht und Moral von privater Kunstförderung damals und (!) heute! Trotz Geldsorgen lehnte Lehmbruck 1912 einen Lehrauftrag in Weimar ab. Vielleicht machten ihm rege Ausstellungsbeteiligungen vor allem in Frankreich, aber auch als einziger deutscher Künstler bei der legendären „Armory Show“ 1913 in New York, Mut zur Selbständigkeit.

Von einem Zeitgenossen wurde Lehmbruck als „mittelgroßer stämmiger Bauernjunge, blond, wortkarg“ bezeichnet. Er war nicht nur wortkarg, sondern auch ein Schreibmuffel. Wenig O-Ton ist überliefert – was KunstwissenschaftlerInnen offensichtlich zu fast triebhaft zu nennender Textproduktion reizt. Die circa 30 Skulpturen von nackten SchweigerInnen ab 1910 werden im Katalog etwas unsystematisch und zäh umwortet: In fast jedem Aufsatz wird aufs Neue der Einfluss von Rodin, Hans von Marées und Maillol erwähnt; außerdem Lehmbrucks Außenseiterstellung in der Pariser Künstlercommunity um Brancusi, Modigliani, Archipenko und die Abgrenzung von faschistoiden Kraftklotzern wie Franz Metzner (Leipziger Völkerschlachtdenkmal) oder Johannes Bosshard.

Marcks-Haus-Chefin Martina Rudloff erzählt von den heftigen Kontroversen zwischen den Katalog-Autoren. Es ging, so Arie Hartog um die Frage, ob Lehmbruck den billigeren, schorfigeren farbvariablen Steinguss (grünlich, rötlich, dunkelbraun, aus Zement, Quarzsand, Wasserglas und ein bisschen Chemie) bevorzugte und Bronze vielleicht nur aus Auftragsgründen verwendete. Auch um die richtigen Titel wurde gestritten und um die Bedeutungsoffenheit oder -geschlossenheit der Skulpturen. Immerhin ist der schwere Katalog gestalterisch ziemlich nobel. Im Aufbau der Ausstellung nutzt das Gerhard-Marcks-Haus wieder mal seine latent spiegelsymmetrische Architektur zu einer Gruppierung der Blickkontakte und Achsenbildungen. bk

Bis 30. April, Katalog 49 Mark