London Calling
: Die Bodentruppen im Fernsehgarten

Im Zwei-Tage-Blitzkrieg wird aus einem Dreck ein japanischer Morgentau-Traum

Junge LondonerInnen zwischen 18 und 26 schauen laut Statistik während der Woche ca. 19 Stunden fern. Was presst sich so ein imaginärer britischer Metropolenmensch in sein tägliches schmales Zeitfenster von gerade mal zweieinhalb Stunden Glotze? Versuchen wir’s im Selbstversuch zu erahnen.

Leider steht dem Probanden kein Kabelanschluss zur Verfügung, und so müssen die kauzig-ergrauten BBC 1 und 2, das farblose ITV sowie die grelleren Duftnoten Channel No. 4 und 5 ausreichen. Die beiden BBC-Programme sind natürlich unbewusst längst als ARD- und ZDF-Equivalenz verbucht, doch beim ersten Blick ins Programmheft dämmert es jäh: Vergiss deine bundesrepublikanisch auf 20-Uhr-Tagesschau geeichte innere Fernsehuhr. Nachrichten gibt's,wenn überhaupt, um zehn (und auf Berichte aus Haider-Österreich und CDU-Skandal-Deutschland wirst du vergebens warten). Stattdessen regiert zwischen acht und neun das Hobbyfernsehen. Kochen, Handwerkertipps und vor allem: Gärtnern in allen Variationen.

Ist es das also, was LondonerInnen sehen wollen, wenn sie gerade vom nachfeierabendlichen Pub-Besuch in ihr völlig überteuertes 25-Quadratmeter-Shithole gewankt sind, einen Teller organic Fertig-Koriander-Karotten-Suppe löffeln und sich innerlich schon aufs Clubbing nach elf einstellen? Heckenscheren und Rosenbeete? Yes, please!!!

Charlie Dimmock ist Heldin der BBC-Gartensendung „Ground Force“ („Bodentruppe“). Wenn sie ihr burschikoses Fergie-Lächeln aufblitzen lässt, beim Umtopfen eines Efeus mindestens fünfmal die rotblonde Zottelmähne zurückschnickt und den Bauch einzieht, damit auch der letzte Trottel merkt, dass sie unterm zitronengelben T-Shirt keinen BH trägt, wird klar, dass wir es mit der Madonna des Gartenfernsehens zu tun haben.

Das Konzept ihrer Sendung funktioniert nach dem „Lass dich überraschen“-Muster: Der Ehemann ist auf Dienstreise, heimlich hat die Gattin längst dafür gesorgt, dass Charlie und ihre Mannen einmarschieren; im Zwei-Tage-Blitzkrieg wird aus einem verwahrlosten Sauhaufen, in dem sich die unausgepackten Torfballen neben der verrosteten Hollywoodschaukel stapeln, dank unermüdlichem Teamwork ein japanischer Morgentau-Traum, mit Brückchen, Seerosen und allem Schnickschnack. Der Mann kommt heim, ihn trifft der Schlag (ich wette, die Gattin hat eine Klausel zum Ausschluss von Schadenersatzforderungen unterschreiben müssen).

Sexsymbol-Faktor Charlie Dimmock hin oder her, Hobby-TV zur besten Sendezeit kann unmöglich nur auf altersgeile Rosenzüchter abzielen. Das muss ein breiteres Publikum sein. Gardening weckt wehmütig romantische Reminiszenzen an Merry Old England, und die teilen nicht zuletzt auch jüngere blairisierte BritInnen. Der Garten ist ein eingezäuntes Empire, Unterpfand verblichener Größe im Kleinen, Millennium-Dome hinterm Reihenhaus. Und aus multikulturalistischem Postkolonialismus wird buntes Mischen von Pflanzenarten aus aller Welt: Multihorticulturalism (ja, so heißt das wirklich).

Höhepunkt zur Jahrtausendwende war übrigens, dass Charlies Bodentruppen den Garten von Nelson Mandela in der Nähe von Johannesburg umpflügten. Vorher sah's aus wie ein vernachlässigter Schrebergarten mit nichts als Savanne hinterm Zaun, hinterher wie ein Londoner Minipark (immer noch mit Savanne hinterm Zaun). So richtig begeistert sah good old Nelson ja nicht aus, als ihm die vollendete Rückeroberung vorgeführt wurde.

Okay, Engländer wässern ihren Nationalismus also auch mit der Gießkanne, bloß: Viele Leute haben überhaupt gar keinen Garten, schon gar nicht in London. Und wenn sie einen hätten, bliebe ihnen keine Zeit, ihn zu pflegen. Doch genau dafür sind ja „Ground Force“ da: Sie sind deine symbolische Wette um die perfekte Existenz. In zwei Tagen aus einem Loser-Chaos ein Winner-Paradies machen. Wem die Energie nicht reicht, um zwischen neuem Job beim Internet-Start-up und Nebenjob an der Supermarktkasse, Fitness-Studio und Pub auch noch einen Garten zum Blühen zu bringen, für den erledigt das Charlie – im Fernsehen.

Ein schlüssiger Schritt, dass Charlie jüngst die Rolle mit ihrem Kollegen Laurence Llewelyn-Bowen (Typ Jürgen Drews in Dandy-Rüschenhemd) von der Innenausstattungssendung „Changing Rooms“ tauschte, der das „Lass dich überraschen“-Prinzip vorzugsweise auf Schlafzimmer anwendet. Und während er den Garten der Familie Ercalano toskanisierte, knüpften sich Charlie & Co. das Interieur vor. Endlich, so muss das Herz der Fans höher geschlagen haben, sind die Bodentruppen ins Schlafzimmer vorgestoßen. Jörg Heiser