Ein Bambi für Reich-Ranicki! ■ Von Wiglaf Droste

Als Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben“ erschien, hielten es einige Rezensenten für eine gute Idee, dem Publikum mit ihren Gefühlen lästig zu fallen. Sie hätten, besonders bei Szenen aus dem Ghetto, sehr geweint, teilten die Literaturkritiker mit. Ob diese Gefühle tatsächlich empfunden oder bloß ausgestellt waren, ist dabei nebensächlich: Es hatte etwas Obszönes, wie sich lauter gute Deutsche mit der Selbstverständlichkeit brüsteten, dass ihnen die Ermordung der Juden nicht gleichgültig ist. Seht her!, schienen sie zu krakeelen, wir weinen über die Ermordung von Juden! Sind wir nicht gut? Und vor allem: Kann uns auch jeder dabei sehen?

Was empfinden Leute, die so viel Wert auf die Veröffentlichung ihrer Gefühle legen, bei der Verleihung der „Goldenen Kamera“ an Marcel Reich-Ranicki? Finden sie es zum Weinen, zum Lachen oder ganz egal, dass Reich-Ranicki, das HB-Männchen der Literatur, einen Fernsehpreis der Halbalphabetenzeitschrift Hör zu bekommt und annimmt? In der Begründung der Jury heißt es, Reich-Ranicki animiere mit seinem „Literarischen Quartett“ das Publikum zum Lesen. Wer ihn und diese Sendung einmal gesehen hat, weiß, was für ein Quatsch das ist.

Reich-Ranicki mag zu allem Möglichem animieren – nur garantiert nicht zum Lesen. Der alten Krawallschachtel beim Herumfuchteln zuzusehen, ist einmal im Jahr ganz lustig; verglichen mit vielen Untoten, aus denen sich der Literaturbetrieb des Landes sonst rekrutiert, hat Reich-Ranicki leidlich unterhalterische Qualitäten. Gemessen am Klischee des fahlen Büchermenschen erscheint er feurig, und dass ihm die Bücher dabei nie halb so wichtig sind wie er selbst, liegt in der Profession des Entertainers begründet. Vor allem animiert Reich-Ranicki zur Parodie – und bleibt den meisten, die sich darin versuchen, insofern voraus, als er noch die monströseste Karikatur seiner Person durch seinen nächsten Auftritt übertrifft. Wie allerdings Eckhard Henscheid als Reich-Ranicki in den 80er-Jahren das Telefonbuch rezensierte – Müllärr? Daß ißt doch kein Name, daß hat doch mit Littärratturr nichtß tßu tun! –, war sehr erhellend, zeigte es doch die Methode Reich-Ranicki: immer vollrohr losgeorgelt und draufgedengelt, bis der masochistische Karasek ganz Pfütze wurde. Davon wiederum fühlen sich Buchhändler animiert, die im „Literarischen Quartett“ erwähnten Bücher zu ordern – auch das ist ja keine Sache des Lesens. Nebenbei: Gibt es etwas Unbeleseneres als einen Buchhändler? Die „Goldene Kamera“ bekommt Reich-Ranicki nicht allein; unter anderem auch die Kita-Animateure Sabrina Setlur und Echt erhalten das Stehrümchen. Im Gegensatz zu diesen flauen Existenzen ist Reich-Ranicki wirklich ein Popstar – der erste und dienstälteste Popstar der deutschsprachigen Literatur. Und Reich-Ranicki weiß, was ein Popstar sich schuldig ist: Egal wie hoch ihm die Hosenbeine rutschen im Eifer des Gejabbels – nie zeigt er den fiesen Beinfleischstreifen zwischen Hosensaum und Sockenrand vor. Wahrscheinlich trägt er Strümpfe bis zum Skrotum. Für diese professionelle Umsicht muss man ihn bewundern. Um aber mit Reich-Ranicki selbst zu sprechen: Mit Littärattur hat daß nichtß tßu tun.