Missmut als Produktivkraft

■ Misanthropen singen schöner! Jedenfalls, wenn sie Vic Chesnutt heißen. Jetzt hat der letzte der großen amerikanischen Kettenraucher sein verlorenes Album herausgebracht

Im Blick, der unter der Strickmütze hervorsticht, liegt ein sanfter, vorsichtiger Hass, zu gut erzogen, um sich Bahn zu brechen

Vic Chesnutt hat schlechte Laune. Draußen ist ihm kalt. Drinnen will er nicht sitzen. Zu rauchen ist auch nichts mehr da. „Ich bin überrascht“, sagt Vic Chesnutt, demonstrativ zusammengekauert in seinem Rollstuhl, „dass mir überhaupt jemand zuhört.“

Zugegeben, die Auflagen von Chesnutts Platten werden nicht in Millionen vermessen. Aber es sind doch mehr als die 20 Stück, von denen er im Interview sarkastisch spricht. In Kreisen, die sich für so etwas interessieren, wird er zu den besten Songwritern Amerikas gezählt. Michael Stipe von R.E.M. hat ihn dereinst gezwungen, seine erste Platte aufzunehmen, und sie dann auch gleich produziert. Smashing Pumpkins, Soul Asylum, Garbage und selbst Madonna haben neben vielen anderen Songs von ihm gecovert. Es ist schon richtig: Chesnutt hat keinen Mainstream-Erfolg, aber es gibt nicht viele, die von Kollegen und Kritik so geschätzt werden.

Trotzdem findet „Nine High A Pallet“ unter Ausschluss der amerikanischen Öffentlichkeit statt. Die Platte von Brute, einer Kollaboration von Chesnutt mit der ebenfalls in Athens, Georgia, beheimateten Band Widespread Panic, wird mit neuem Cover vom kleinen Düsseldorfer Label Trocadero wieder veröffentlicht. Aber um die Verkaufschancen hier zu Lande nicht zu sehr zu mindern, wird zwar nicht behauptet, man habe es mit dem neuen Werk von Chesnutt zu tun, aber man erwähnt auch nicht, dass „Nine High A Pallet“ bereits fünf Jahre alt ist.

Chesnutt selbst macht kein Hehl daraus. Andererseits: „Für mich ist sie wie neu. Es war eine verschwundene Platte. Ich hatte sie vier Jahre nicht angehört, und als ich es dann tat, dachte ich: Hey, das ist eine klasse Platte.“ Verschwunden? „Nur sehr wenige Menschen besitzen sie.“ Chesnutt zittert und raucht Kette. Dabei strahlt er eine chronische Missmutigkeit aus, die allerdings gar nicht aggressiv ist. Ein „angry young man“ sei er gewesen zu College-Zeiten, erzählt er, glücklich, es aus der deprimierenden Kleinstadt in Georgia herausgeschafft zu haben, und ständig besoffen. Damals wollte er Dichter werden, eine ruinierte Leber ist ihm geblieben. Wegen ihr kann er nicht mehr trinken. Noch ein Grund, schlechte Laune zu kriegen.

1983 fuhr er betrunken seinen Buick in den Graben. Seitdem ist der inzwischen 34-jährige Chesnutt teilweise gelähmt. Er sitzt im Rollstuhl, sein Gitarrenspiel klingt mitunter etwas eigenwillig. In seinem Blick, der missmutig unter der Strickmütze hervorsticht, liegt nicht unbedingt die Traurigkeit seiner Songs, sondern eher ein sanfter, vorsichtiger Hass, der allerdings zu gut erzogen ist, um sich Bahn zu brechen.

Zu Hause können ihn nicht einmal die Behindertenverbände leiden, sagt er. „Viele meiner Überzeugungen sind ihrer Politik entgegengesetzt“. Als er sich negativ über den American Disabled Act äußert, bekommt er Hassbriefe. Es ist nicht so, dass Chesnutt etwas gegen Behinderte hätte. Er hat nur etwas gegen das Behindertsein. „Wenn ich einen dicken Busen hätte, würde ich haufenweise Platten verkaufen.“

Aber ist so ein Rollstuhl, so makaber das ist, nicht viel besser als Titten, um Publicity zu bekommen? „Nein, nein. Titten auf Plattencovern verkaufen Platten. Rollstühle auf Plattencovern sorgen dafür, dass die Leute die Beine in die Hand nehmen. Ich denke, dieselben Menschen hätten über meine Platten geschrieben, aber sie hätten sich mit der Musik beschäftigt. Ich bin fest davon überzeugt, die Behinderung hat meine Karriere ruiniert.“

Chesnutt hat viele solcher leicht bitteren Statements parat. Über seine Nebenrolle in dem Oscar-prämierten Film „Sling Blade“ sagt er: „Ich war nicht so schlecht.“ Über seine Texte: „Ich veröffentliche sie nicht als Gedichte, weil ich glaube, sie sind nicht gut genug.“ Über sich selbst: „Ich denke, dass alles blöd ist, was ich sage. Ich habe Angst vor Menschen. Und es wird schlimmer.“ Über den ganzen Rest: „Ich war glücklich, als ich einfach nur rumsaß den ganzen Tag. Okay, nicht richtig glücklich. Aber ich bin heute auch nicht glücklich. Gut, ja, manchmal bin ich glücklich. Aber so sind wir wohl, wir modernen Menschen, ziemlich lächerliche Kreaturen. Wenn wir noch auf den Feldern arbeiten müssten, hätten wir keine Zeit, unglücklich zu sein.“

Der Mann ist ein pathologischer Fall, aber dafür schreibt er die besten Songs zwischen hier und dem Tag, an dem Bob Dylan sich nicht mehr so wichtig nimmt. Singt mit brüchiger Stimme Songs wie „Sewing Machine“, in denen in denkbar einfachen Zeilen das schlichte Glück einer Kindheit einerseits und ihre endlose Trostlosigkeit andererseits beschrieben wird. Auch wenn Widespread Panic dazu manchmal eine Sorte Folkrock spielen, bei der das Haltbarkeitsdatum bereits drei Semester abgelaufen ist: Chesnutts Songs sind zu gut, als dass sie nicht auch als Rock funktionieren würden. Er selbst hat längst die engen Vorgaben des Singer/Songwritertums hinter sich gelassen und 1996 auf „About to Choke“ gar mit Loops und Synthesizern experimentiert. So gesehen ist es wohl ein Rückschritt, die Brute-Platte als aktuelles Chesnutt-Album zu verkaufen. Aber auch für „Nine High A Pallet“ gilt, was man über das gesamte Schaffen Chesutts sagen kann: Zuerst einmal ist es wundervoll. Ein Reinfall, eine Katastrophe, wie sein Schöpfer sagen würde, aber wundervoll. Thomas Winkler

Brute: „Nine High A Pallet“ (Trocadero/ TIS/ eastwest) Tour: 11. 4. Bochum, 12. 4. Hannover, 13. 4. Berlin, 14. 4. Dresden, 16. 4. Hamburg, 17. 4. Düsseldorf, 18. 4. Marburg, 19. 4. Karlsruhe, 20. 4. Regensburg, 22. 4. München