Die Ruine als Manifest

Zehn Jahre halt das Tacheles dem Druck der Verwertung des innerstädtischen Raums standgehalten. Doch das Programm des Kunsthauses zehrt beständig vom eigenen Mythos

Tacheles-Texte fangen so an: mit Künstlern, die sich Zigaretten drehen, Schweißerbrillen tragen und aus Schrott Skulpturen machen. Authentizität garantiert! Dann kommen Geschichten von Räumung und Widerstand und von Schulklassen und Touristen, die heiß gemacht von Berlinwerbung hier die Aufbruchsstimmung der Wendezeit suchen.

Das funktioniert auch nach zehn Jahren noch. Unten darf man für 2 Mark Spende/Eintritt Kerzenleuchter und Nippes aus Schrauben und Muttern betrachten. Im dritten Stock betreibt der holländische Künstler Tim Roelofs Trauerarbeit. Eine Entrümplungsfirma hat ihm im Zuge von Sanierungsarbeiten unangemeldet seinen Keller geräumt, Archiv und Dunkelkammer vernichtet, Negative weggeschmissen. Der Moloch Stadt, er türmt sich wie ein Gebirge in seinen Collagen aus Plattenbauten, Abrisshäusern und Zigarettenkippen. So rüstet man sich für die Sanierung im eigenen Haus, die im März bei eingeschränktem Betrieb beginnen soll.

Als die Ruine des alten Passagen-Kaufhauses am 13. Februar 1990 besetzt und so vor dem Abriss gerettet wurde, konnte der schnell gegründete Tacheles Verein auf Unterstützung von Denkmalschützern, Historikern und Architekten rechnen.

Es schien wichtig für die Bewahrung der Identität der Stadt, nicht mit einem Schlag alle Narben zu überschminken. Die Wiederaneignung der totgesagten Räume der Stadt wurde zu einem wichtigen Zeichen für die Glaubwürdigkeit ihrer Erneuerung. Da zog die Subkultur im Kunsthaus Tacheles, die sich programmatisch mit allen „unterdrückten Randgruppen solidarisierte“, an einem Strang mit der Kulturpolitik, die sie gegen das Begehren von Investoren in Schutz nahm.

So wurde das Tacheles zu einem Manifest gegen den Verwertungsdruck innerstädtischer Quartiere. Mehr noch als die Ruine selbst erstaunt heute die große Freifläche zwischen Oranienburger Straße und Friedrichstraße, die weder von Skulpturen aus umgebauten Kampffliegern noch von Biergärten oder Musical-Zelten je gefüllt wurde.

Doch der bewahrte Freiraum enthielt auch ein Versprechen, das nur unbefriedigend eingelöst wurde: Das Kunsthaus Tacheles wollte kreatives Labor sein. Anfangs war von 100 Künstlern als Besetzern und Mietern der Ateliers die Rede, später von 45 ABM-Stellen, die von der Kunstszene misstrauisch beäugt wurden. Denn das Kunstprogramm kam über die Stilisierung des Überlebenskampfes nie recht hinaus. Zu viel wurde von der Aura des Verfalls gezehrt, zu naiv Symbolismen und expressive Selbstbehauptung gepflegt, zu missionarisch Avantgarde behauptet.

An Konzepten aber fehlte es. Ein Profil als Veranstalter wie der Pfefferberg mit der Weltmusik, die Sophiensäle mit internationalen Theater- und Tanzgastspielen oder die Kunst-Werke, die bekannte Künstler nach Berlin einluden, bauten sie nicht auf. Auseinandersetzungen mit Räumkommandos und Investoren scheinen zu viele Energien geschluckt zu haben.

Das Tacheles ist heute die wohl weltweit berühmteste Berliner Ruine, sie hat sogar der Gedächtniskirche den Rang abgelaufen. Die Lücke offen zu halten und den Moment des Umbruchs ins Unendliche zu verlängern, das scheint noch immer Traum des Tacheles-Teams.

Künstlich erhaltene Ruinen aber werden zu Kulissen. Dabei wäre gerade jetzt ein Konzept notwendig, das über die Identifikation mit dem eigenen Mythos hinausgeht. Das zeigt ein Blick auf die sehr unterschiedlichen Architekturentwürfe, die dem neuen Eigentümer, Anno August Jagdfeld von der Fundus-Gruppe, für die Bebauung des Areals vorliegen. Das Tacheles müsste sich neu erfinden und seine Bedeutung über ein Programm definieren, um mehr zu sein als ein dekorativer Spielball.

Katrin Bettina Müller