Die Mythosmaschine

Das Kunsthaus Tacheles feiert morgen seinen 10. Geburtstag. Die Künstler gefallen sich weiterhin als Außenseiter, auch wenn die Szene offensichtlich oft woanders rockt ■ Von Kirsten Küppers

Es fing damit an, dass man anfang der 90er irgendwann im Flugzeug saß und im Time-Magazine blätterte. Da wurde das Tacheles gefeiert als Kristallisationspunkt der alternativen Kunstszene auf der jetzt sowieso so spannenden Ost-West-Drehscheibe Berlin, beim Urlaub dorthin bitte schön unbedingt ins Besichtigungsprogramm einbauen. Reiseführer zogen nach. Man selbst ging immer weniger hin. Das lag nicht nur an den Touristenbussen, die sich vor dem Tacheles entleerten. Oder daran, dass die Baupolizei den Technokeller „Massengrab“ versiegelte. Vielmehr verhält es sich mit der ehemals besetzten Kaufhausruine wie mit einer alten Bekannten, die man aus den Augen verliert. Weil man umgezogen ist, jetzt andere Platten hört und sie derweil immer noch in derselben Schrammelband spielt wie eh und je.

Morgen feiert das Tacheles seinen zehnten Geburtstag. Umzingelt von satt-sanierten Fassaden in der Oranienburger Straße wirkt das dunkle Gebäude struppiger denn je. Weniger wegen trotzigen Kulturbetriebes denn wegen der zur Ausgehmeile ansonsten so aufgeschicksten Umgebung. An der Tacheles-Front klebt eine dicke Schicht abgerissener Plakate, im Durchgang stehen Pfützen, von hinten sieht der im Krieg zerbombte Komplex aus wie ein aufgeklapptes Puppenhaus. Im Hof künden eine einsame Rakete aus Ramschblech und eine verwaiste Strandbar im trübem Februarwetter von den Partys, die da waren. Das Tacheles ist eine Mythosmaschine.

Und die wird im Büro längst berufsmäßig als Kulturinstitution mit öffentlichen Zuschüssen und ABM-Mitteln weiter verwaltet: Heute beherbergt das Tacheles ein Theater, ein Kino, Werkstätten, Ateliers, das Café Zapata und einen Tanzkeller. Mit der Einigung des Tacheles-Vereins mit den Investoren der Fundus-Gruppe vor gut einem Jahr ist das noch zu DDR-Zeiten 1990 besetzte Tacheles von einer unordentlichen Künstlerfabrik zur legalen kreditwürdigen Einrichtung geworden – europaweit der einzige Fall einer Partnerschaft zwischen Hochfinanz und einem Künstlerhaus der Off-Kultur. Für die etwa 70 Tacheles-„Insassen“ bedeutet das Freiraum für Kunst zur Betriebskostenmiete. Trotzdem bleiben sie nach Meinung von Vereinsvorstand Martin Reiter „das ungeliebte Schmuddelkind der Berliner Kulturlandschaft“. Dass Bundeskanzler Gerhard Schröder die Einladung zum Geburtstagsfest absagt, beweise dies nur. Noch immer sei draußen in den Köpfen das Bild der borstigen Querulanten in der Ruine verhaftet.

Dass die Tacheles-Künstler auf dem Mythos des Hauses indes auch gut mitsurfen, streitet Reiter, der selbst als Künstler Maschinen und Apparate baut, gar nicht ab. Das Label „Tacheles“ ist schließlich international bekannt, und die Touristenscharen, die in die Ateliers einfallen, kaufen gerne Bilder, an denen Ost-Berlin-live dran klebt. Arroganz den Urlaubern gegenüber sei da ganz fehl am Platz, meint auch Resa, iranischer Künstler und seit drei Jahren im Tacheles. „Wenn ich zum Zahnarzt gehe, repariert er mir die Zähne. Wenn Zahnärzte hierher kommen, ist es ihr gutes Recht, dass ich ihnen meine Bilder zeige.“ Das zwinge den Künstler, sich vom kulturellen Elfenbeinturm abzuseilen.

Integriert in die boomende Galerien-Arena im Bezirk ist das schweißkunstlastige Tacheles trotzdem nicht. Dort sei jeder jedem alles neidig, findet Reiter und fügt als fröhlicher Ausdauer-Außenseiter hinzu: „Wir haben uns bei der Lobbyarbeit oft absichtlich ungeschickt angestellt.“ So kann er auch locker darüber hinwegsehen, wenn die Szene inzwischen überwiegend woanders rockt. „Das liegt an der Ausdifferenzierung der Stile in Berlin“, hält er sich das vom Hals. „Es kommt eben vor, dass eine Discobewegung durchrollt. Wenn die sich in anderen Clubs etabliert, ist im Tacheles längst wieder was anderes dran.“