Alter Meister

■ Er ist ein Dichtervernichter, sagen die einen. Nein, ein Dichtermacher, sagen die anderen. Thomas Bernhard, der große Österreichbeschimpfer, der heute vor elf Jahren starb, ist ein Vorbild für viele junge AutorInnen. Für Sie auch?, haben wir sieben Schriftsteller gefragt

Albert Ostermaier

Während ich diese Zeilen schreibe, wird gerade eine Eintagsfliege als österreichischer Bundeskanzler vereidigt. Der Atem stockt einem, die Gesichtzüge des Bundespräsidenten vor dem Ruhestand schockgefrostet, alle Versuche einer Korrektur naturgemäß fehlgeschlagen: Ein Ignorant und ein Wahnsinniger betreiben in Zukunft munter die Auslöschung des Vielvölkerstaats. Die Ereignisse überstürzen sich, der israelische Botschafter ist im Gehen begriffen, die Kabinettsliste wurde beim Watten ausgespielt, doch ein Trumpf bleibt in der rechten Hinterhand: ein vom Holzfällen braun gebrannter Stimmenimitator, der die Ursache allen Übels ist und fast am Ziel seiner Alprepublik. Noch verbirgt er die Kälte seiner Gedanken hinter einem warmen Breitbandlächeln, doch bald heißt es wieder an der Baumgrenze: Über allen Gipfeln ist Ruh und keiner hat zuvor einen Hauch gespürt, weil das Kalkwerk zu laut war, der Beton zu dick vor der Stirn. Sie sagen eben aus der Macht der Gewohnheit heraus immer wieder gerne, wenn es einer in die Hand nimmt oder sie hebt: Ja, weil es anders einfach kompliziert ist. Weil sie das Theater leid sind und da einer endlich ein Macher ist: Einer der kurzen Prozesse, der nicht auf-, sondern abschiebt. Und der Rest der schweigenden Minderheit? Die hoffen, der selbst erklärte Weltverbesserer wär ein Untergeher. Es herrscht Verstörung allerorten, selbst die Alten Meister der Diplomatie: gescheitert. Auch wenn der Schein bisweilen noch trügt, der deutsche Mittagstisch ist gedeckt. Und ein jedes Kind weiß, was kommen wird: die Jagdgesellschaft.

Zoë Jenny

Als ich zum ersten Mal Thomas Bernhard las – es war die Erzählung „Alte Meister“ –, reizte mich Seite für Seite zu einem befreienden, lang anhaltenden Lachen. Durch seine Lektüre wurde mir bewusst, dass wahre Ironie dann beginnt, wenn ein Schriftsteller sein Material tödlich ernst nimmt. Thomas Bernhard hat eine Welt entworfen mit ureigenen Gesetzen und Regeln. Mit jedem Satz hat er beharrlich an seinem Konzept festgehalten. Seine Figuren sind dazu verdammt, zu reden, zu monologisieren, sich zwanghaft zu wiederholen und dabei immer gegen den größten Feind anzukämpfen: den Tod. Es bleibt nichts anderes als gegen den Tod an zu reden, der immer ganz nahe ist und nicht weichen will. Bernhard schreibt im Rhythmus des Atemholens, wenn man sehr schnell rennt, um sein Leben rennt. Bernhards Prosa lesen ist wie das Licht sehen am Ende eines langen Tunnels, aber hinter sich den Zug hören, der unerbittlich näher und näher kommt. Da stößt er Flüche und Gebete aus im selben Moment, und bei Bernhard ist das kein Widerspruch. Wie kein anderer hat er das gefährliche und böse Herz der Provinz offen gelegt und sichtbar gemacht. Und nicht nur jenes in Österreich, sondern das allgegenwärtige, jenes, das in uns steckt und das es zu überwinden gilt. Man spricht von Thomas Bernhard als Erzähler und Dramatiker, unbegreiflicherweise sind seine Gedichte kaum im Bewusstsein. Für mich ist Thomas Bernhard aber vor allem auch das: ein großer Lyriker:

„[...] In einen Teppich aus Erdesticke ich meine Vergängnis.Ich sticke meine Nacht hineinund meinen Hunger,meine Trauerund das Kriegsschiff meinerVerzweiflungen, das hinübergleitetin tausend Gewässer, in die Gewässerder Unruhe [...]“

Eckhart Nickel

Thomas Bernhard ist heute vor elf Jahren gestorben. Das muss man standesgemäß begehen. Da sollte man sich eine teure Hose kaufen gehen, zum Mittag eine Frittatensuppe essen und spätestens am Nachmittag die Wohnung verrammeln und keinen mehr hereinlassen. Dann heißt es lesen. Am besten einfach von vorne anfangen und die Bücher in den Kopf einlegen, wie man eine Platte von Glenn Gould auflegt. Mit ihm, dem von ihm so genannten „Übertreibungspianisten“, hat er vieles gemeinsam. Beide haben sich wie niemand sonst um ihre Kunstdisziplin im zwanzigsten Jahrhundert verdient gemacht. Klavierspiel und Literatur. Die großen Soloinstrumentalisten waren vereinsamte Künstler, die vor allem eines verband: Unverwechselbarkeit. Damit ist gemeint, dass sie vom ersten Moment an zu erkennen sind: Wer eine Buchseite von ihm aufschlägt, liest sofort: Thomas Bernhard. Wer eine Platte von ihm auflegt, hört sofort: Glenn Gould. Das Geheimnis dahinter ist der Stil. Beide haben bewiesen, wie maßgeblich die Form in der Kunst ist. Bernhards Musikalität sensibilisierte ihn für den Klang der Sprache, die Melodie der Erzählung. Ob im Gedicht, im Drama oder in der Prosa: Die vielen Stimmen, die der Imitator beherrschte, bevölkern auch noch dem einsamsten Leser seine Bibliothek mit einer Fülle des Wohllauts. Denn Bernhards Wut über die Welt entlud sich zwar in unglaublichen Schimpfkanonaden, diese jedoch verwandelte er als Tonsetzer der Literatur in meisterhafte Prosa-Suiten. Wer wissen will, was in der Literatur des letzten Jahrhunderts von Belang war, muss die Bücher Bernhards kennen und seinen Todestag als Aufforderung verstehen, ihn zu lesen. Heute Nachmittag könnte man sich vielleicht, gesättigt und in guten Hosen sitzend, das Stück „Die Jagdgesellschaft“ vornehmen, in dem der Zerfall der Gesellschaft in aller gebotener Schärfe analysiert wird. Am Ende ist die Hauptfigur, der General, genau wie der vom Borkenkäfer befallene Wald rund um sein Anwesen, auf dem das Stück spielt, tot. Aber Schnee fällt und bedeckt das ganze Geschehen mit einem ästhetischen Mantel des Schweigens und es fallen die entscheidenden Worte: „Klar – Kalt und Klar – Es ist eine klare Nacht – Schön.“ In seinem letzten Werk, dem Roman „Auslöschung“, hat Bernhard uns ein Vermächtnis übereignet: In der Figur des Franz-Josef Murau zeigt er einen Weg auf, wie die Welt in all ihrer Grauslichkeit überhaupt noch zu ertragen ist: als Geistes-Dandy, der sich mit Hilfe seines Humors, seines Stils und eines brillanten Kulturweltgedächtnisses die Welt im Kopf erhält, in der es sich allein wahrhaft zu leben lohnt: die Welt der Kunst und Phantasie. Von dem übrigen Teil meinte ja schon Arno Schmidt zu Recht: „the rest is a nightmare.“

Thomas Meinecke

Meine erste Seminararbeit schrieb ich über ihn. Und ohne Thomas Bernhard hätte ich, in den späten Siebzigerjahren, überhaupt nicht selbst zu schreiben angefangen. Ich war zunächst sein Stimmenimitator. Er machte mir klar, dass Schreiben, ohne genialische Gesten, poetisch gespreizte Erzählbewegungen, nie zuvor dagewesene Formulierungen und ähnliche so genannter Originalität verpflichtete Chimären mehr, große Kunst sein konnte: Im Repetitiven, im Groove, in der unglaublich heiteren Musikalität seiner Texte. Mozart sozusagen. Wer einmal ein Bernhard-Stück auf der Bühne gesehen hat und erleben musste, wie diese grandiose Sprache von Schauspielern regelrecht verspielt wurde, dürfte nie wieder ins Theater gegangen sein.

Elke Naters

Im stinkigen Arsenal-Kino habe ich damals zur Thomas-Bernhard-irgendwas-Retrospektive, auch egal, zwei Interviewfilme mit ihm gesehen. Obwohl ich im Arsenal-Kino gesessen habe, wo nur Film- und andere Studenten sitzen, die auch gerne Film studiert hätten, aber nicht durften und deshalb ständig immer laut lachen müssen, zum Zeichen dafür, dass sie alles verstanden haben und gleichzeitig einen intellektuellen Abstand, aber auch egal, obwohl die tatsächlich schon beim ersten Satz losgelacht haben, waren die Interviews dermaßen beeindruckend und Thomas Bernhard war wirklich lustig und als die Filmdeppen das gemerkt haben, haben sie auch aufgehört zu lachen, weil sie immer nur lachen, wenn etwas traurig, schön oder bewegend ist, wie ein alter Ingmar-Bergmann-Film zum Beispiel. Thomas Bernhard saß auf Mallorca in einem Strandcafé, schaukelte mit den Beinen, war ruhig und lässig, sehr charmant und lustig, sah sagenhaft gut aus, war tadellos lässig gekleidet und sagte unter anderem so kluge und richtige Dinge wie: Wenn man darüber nachdenkt, was man schreiben soll, dann ist schon was falsch. Oder: Der Geistesmensch ist gerade in der Untätigkeit am tätigsten, nur das kann der Nichtgeistesmensch nicht verstehen und damit auch nicht ertragen, weil sich bei ihm in der Nichttätigkeit gar nichts mehr tut. Und: Ich habe keine Vorbilder. Ich wollte immer ich selbst sein. Wenn man ein Vorbild hat, dann will man so sein wie das Vorbild und nicht wie man selbst und man macht Sachen, die einer schon viel besser vorher gemacht hat, deshalb ist ein Vorbild das unnötigste und überflüssigste, das ein künstlerischer Mensch haben kann. Genau: Thomas Bernhard ist kein Vorbild. Thomas Bernhard ist Gott.

Alexa Hennig von Lang

Sascha war absoluter Thomas-Bernhard-Fan. Er war blass, abgemagert, Kettenraucher und hatte tiefschwarze Ringe unter den Augen. Ich war sechzehn und wir waren Schulkameraden. Ständig ist er im Unterricht, mit dem Kopf auf der Tischplatte, eingeschlafen, weil er nachts gelesen und ziemlich viel getrunken hat. In den Pausen stand er alleine neben dem Aschenbecher in der Raucherecke und hat mit niemandem geredet. Sascha war nämlich depressiv. Das hat er mir mal verraten, als wir nebeneinander im Schulbus saßen. – „Während sie die Hirsche abschossen, saß ich in der Bibliothek hinter festverschlossenen Fensterbalken, um ihre Schüsse nicht hören zu müssen, sagte er, und las ...“ – „Ich auch!“, habe ich gesagt, weil ich nicht wusste, wie man sonst auf so eine intime Information reagieren soll. Da hat mich Sascha zu sich nach Hause eingeladen, um mir aus Bernhards „Auslöschung“ vorzulesen. „Der war nämlich auch depressiv!“ Ich dachte, klasse, da können wir vielleicht ein bisschen rumknutschen. Belesene Jungs fand ich nämlich schon immer ziemlich gut. Aber Sascha schien anders darüber zu denken: „... je größer zuerst ihre Liebe zu uns gewesen ist, desto größer ist, wenn wir wahrgemacht haben, was wir geschworen haben, ihr Haß.“ Na ja, aus dem Knutschen ist dann eben nichts geworden. Sascha stand müde und mit hängenden Schultern in seinem kleinen „Refugium“ vor mir und trug mir etwas aus der „Auslöschung“ vor. Da ging es die ganze Zeit um ein gewisses „Wolfsegg“. Immer wieder tauchte „Wolfsegg“ auf. Alles war aus, von, unter, mit, durch „Wolfsegg“ infiziert. Da konnte ich nicht anders, ich musste lachen. Sascha schlug das dicke rote Buch zu und bemerkte kalt: „Über Thomas Bernhard lacht man nicht!“ – – – „Bald jedoch hatte sich dieses Paradies verfinstert, nach und nach hatte es sich für mich zuerst in eine Vorhölle, schließlich in eine Hölle verwandelt. Aus dieser Hölle wollte ich heraus ...“

Ralf Bönt

Die Begegnung mit Bernhard fand in der Berliner Autorenbuchhandlung statt und war unangenehm persönlich. Ein paar Tage vorher hatte ich gerade meinen Roman „Icks“ fertig geschrieben, und entsprechend erschöpft stand ich vor den Regalen. Ich nahm den „Abschied von den Eltern“ heraus, Peter Weiss, thematisch ganz nah an meiner Arbeit. Es imponierte mir erst mal durch das Fehlen jeglicher Absätze. Auch das „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ von Imre Kertész hatte keine Absätze gehabt, und ich musste es viermal hintereinander lesen, im Sommer 1996, bevor ich mich hinsetzte und meine Vatersohngeschichte in Form zu bringen versuchte. Kertész hatte mir mit dem betörenden Monolog eines Mannes, der aus der Ablehnung jeglicher Herrschaft „niemals Vater eines anderen Menschen sein könnte“, einen Initialtext geliefert, der mich ein Jahr gefangen hielt. Natürlich schrieb ich nicht denselben Ton wie er, aber es gab auch eine sehr bewusste Bemühung um Distanz. Ich baute die Sätze anders, kürzer, ging sparsamer mit Bindestrichen um. Ich benutzte keine Semikolons und weniger Ebenen innerhalb der Sätze. Ich erfand einen Zuhörer, um dem Leser Deckung zu geben. Monatelang arbeitete ich am Sprachfluss, am Redezwang, der durch eine falsche Betonung, einen hakenden Satz sofort abstürzt. Ich kam mir vor wie ein Musiker. Das gefiel mir sehr. Dabei erarbeitete ich automatisch das genaue Motivbild, ein Hausbau wurde wichtig und dass der Mann erst vom Jasagen träumt, sich dann aber endlich zum großen Nein durchringen will. Kurz, mein Buch war ebenso fertig wie ich, als ich ausgerechnet in der Autorenbuchhandlung nach Ablenkung suchte. Bernhard war auch vorgekommen bei Kertész, und seine deutsche Lektorin hatte mir so ungefähr gesagt: „Ja, natürlich. Bernhard. Der Dichtervergifter.“ Sie hat das lächelnd gesagt, und ich, mitten im Schreiben, habe mich dann auch nicht ankränkeln lassen davon. Gut. Jetzt stoße ich auf die Taschenbücher mit B, also Bernhard. Ich lese mit schräg gelegtem Kopf die Titel und greife dann gezielt auf „Ja“. Kurz reingeblättert, dann ab zur Kasse. Zu Hause kam dann der Absturz: Ich hatte eine lupenreine Bernhardeske geschrieben, so glaubte ich tagelang, ein Jahr Arbeit für die Katz? Später habe ich mich von dem Schock erholt, schon weil das ein exzellenter Roman war, den ich mir da ausgesucht hatte, und dann auch, weil es so lupenrein doch nicht war. Jetzt begann ich mich für die Techniken und ihre Unterschiede zu interessieren. Ich las noch die „Auslöschung“, beeindruckt, dann den Anfang von „Gehen“, legte es aber aus Überdruss am Bildungsbürger wieder weg. Nein, es war eine schöne Zeit, die mit dem Bernhard.