„Das Konventionelle ist hässlich“

■ Ein Ehren-Bär für subversive Schönheit: Die französische Schauspielerin Jeanne Moreau im Gespräch über sexuelle Doppeldeutigkeiten, instinktive Rollenkenntnisse und die Vorzüge, sich als Star immer noch selbst frisieren zu können

taz : Frau Moreau, für Ihre Berlinale-Hommage haben Sie sich Tony Richardsons „Mademoiselle“ ausgesucht, wo Sie als sexuell frustrierte Lehrerin Vogeleier zerquetschen, Tiere vergiften und Häuser anzünden.

Jeanne Moreau: Ich halte „Mademoiselle“ nach all den Jahren immer noch für einen großartigen Film. Er ist so brutal und so einfach: Nur feste Einstellungen von Anfang bis Ende. Vielleicht waren die Zuschauer geschockt, aber ich finde, der Sinn einer Hommage ist es doch auch, eine Spur zu hinterlassen. Die Leute schockieren heißt sie ernst nehmen – das meinte jedenfalls Genet. Er hat mir damals das Buch gebracht, und ich ging damit zu Richardson, der sofort begeistert war.

„Mademoiselle“, dann die rücksichtslose Zockerin in Jacques Demys „Baie des anges“ oder die intrigante Marquise de Valmont in „Gefährliche Liebschaften“ – in den 60er-Jahren haben Sie immer wieder diese abgründigen bzw. richtig bösartigen Figuren gespielt.

Sie nehmen sich, was sie kriegen können, und sie leben, so schnell sie können. Diese Frauen fallen heraus, sie sind asozial, aber man sollte sie nicht verurteilen. Mir schien immer, dass diese Figuren eine Bösartigkeit ausleben, die in der Gesellschaft angelegt ist, aber ansonsten verdrängt wird. Sie bringen sie ans Tageslicht und nennen die Dinge beim Namen. Hässlich ist das Konventionelle, Spießige, Kleingeistige. Diese Verbrecherinnen und Verführerinnen sind grausam, aber sie wissen um ihre Schlechtigkeit. Das macht ihre subversive Schönheit aus.

Im Grunde hat Genet mit „Mademoiselle“ auch eine Schwulengeschichte erzählt, oder?

Ganz bestimmt. Ich habe mir immer vorgestellt, dass „Mademoiselle“ auch ein Mann sein könnte. Die sexuelle Doppeldeutigkeit der Figur fand ich faszinierend, sie war mir fast unheimlich. Es ist natürlich im Subtext ein Schwulentraum. Die wilde, leidenschaftliche Liebesnacht mit dem muskulösen Holzfäller – und dann der Tod.

In Roger Vadims „Gefährliche Liebschaften“ treiben Sie als Marquise de Valmont die Intrigen der höfischen Gesellschaft auf die Spitze. Am Ende, wenn alles, was sie angerichtet haben, auf sie zurückfällt, öffnen Sie vor lauter Panik eine Paraffinflasche mit den Zähnen. War das Ihre Idee?

Ja, das ergab sich plötzlich so. Wenn man von einer Rolle „bewohnt“ wird, ist man immer wieder überrascht von dem, was sich die Figur herausnimmt. Mit Vadim geriet ich deswegen immer wieder aneinander, obwohl ich ihn als Regisseur sehr geschätzt habe. Sein Tod vor zwei Tagen, das war wie ein Schlag auf den Kopf, ich habe immer gedacht, dieser Filou würde ewig leben. Beim Dreh von „Gefährliche Liebschaften“ sagte er mir ständig: „Jeanne, kannst du das noch mal machen, in der Szene fehlt mir noch dies und das.“ Ich sagte: „Roger, keep cool, es ist alles drin.“ Dann hat er so lange gebettelt, bis ich die Szene noch mal gespielt habe.

Aber ich hatte immer Recht. Es war da, dieses gewisse Etwas. Man konnte es beim Drehen wirklich nicht sehen, aber auf der Leinwand schien es plötzlich durch. Das mit der Flasche und den Zähnen lief genau so unbewusst-instinktiv ab. Ich bin ein Tier. Wenn ich drehe, fühle ich mich wirklich wie ein Tier. Dann denke ich nicht. Das ist wie im Alltag, beim Putzen oder Spülen, da fallen die Gedanken einfach ab.

Das heißt, Sie sind der Ansicht von Marcello Mastroianni, der gesagt hat, Schauspieler seien leere Schachteln ...

Absolut. Marcello hatte völlig Recht mit seiner Schachteltheorie. Man muss leer sein, um sich von der Rolle bewohnen zu lassen. Wenn ein Schauspieler voller großer Emotionen auf dem Set erscheint, dann ist es aus. Das ist wie bei der Psychoanalyse. Bei meiner ersten Sitzung legte ich mich auf die Couch und wollte einen Traum erzählen. Der Analytiker sagte, ich solle meine blöden Träume gefälligst für mich behalten. Recht hatte er! Let's see what's going to happen.

Vielleicht wurden Sie deshalb von den Regisseuren, die ihr Handwerk verstehen, instinktiv in Ruhe gelassen. Buñuel und Losey sagten, man müsse Sie nur machen lassen ...

Aber am lustigsten war Fassbinder. Der sagte bei „Querelle“ nur: „You just have to be great.“ Lassen Sie mich es so formulieren: Ich habe lange genug gekämpft, um zu begreifen, dass ich für mein Talent nicht selbst verantwortlich bin.

Noch ein Wort zu Vadim. Sie haben ihm mal ein großes Kompliment gemacht, als Sie sagten, dass Brigitte Bardot der erste Star der Nouvelle Vague gewesen sei.

Sie war es, unbestritten. Truffaut, Godard, Rivette – diese Jungs wissen gar nicht, was sie Vadim zu verdanken haben. Brigitte Bardot hat in „Und immer lockt das Weib“ den Weg freigemacht, sie hat das frivole, heitere Klima geschaffen, in dem die Nouvelle Vague erst entstehen konnte. Diese kleinen bunten, schmutzigen Geschichten von Vadim waren sozusagen die Vorhut der Revolution.

Und was hat diese Revolution dann für Sie bedeutet?

Die Nouvelle Vague war eine echte Befreiung. Davor warf man mir vor, ich hätte Ringe unter den Augen, und mein Gesicht sei asymetrisch. In „Jules und Jim“ gab es plötzlich nur natürliches Licht, eine kleine Crew, eine bewegliche Handkamera und vor allem: keine Hierarchie. Leider ist inzwischen alles wieder hierarchisch geworden. Mit Stars ersten, zweiten und dritten Ranges, mit Chauffeuren, Maskenbildnern, Frisören, der ganzen großen Maschine. Ich habe aus der Schlichtheit der Nouvelle Vague gelernt. Hier in Berlin kämme ich mir allein die Haare, und ich kann mich auch ganz allein anziehen – wie eine Große, basta!

Interview: Katja Nicodemus