Als Todeskandidat in der Quizshow

Schicksal mit Sinn, Tod mit Weisheit: Paul Thomas Andersons Wettbewerbsfilm „Magnolia“ verbandelt das Unglaubliche mit dem Wesentlichen – und präsentiert den Zufall als Weichensteller ■ Von Birgit Glombitza

Auch Taucher haben Angst vorm Fliegen. So ereilte einen unglücklichen Froschmann der Tod irgendwo auf der Luftlinie zwischen einem Baum und dem See, aus dem ihn ein Flugzeug gegen seinen Willen entfernt hatte. Der Mann starb an Herzversagen. Was für ein Tod. Was für ein Unfall.

Wenn zwei Wege sich partout nicht kreuzen wollen und auch die Natur kein Einsehen hat, dann muss der Zufall den Geschichten unter die Arme greifen. Dann erst können die Figuren wie Billardkugeln aufeinanderprallen und ihrem Leben unverhofft eine neue Richtung geben. Wie auch in jenen aberwitzigen Anfangsepisoden in Paul Thomas Andersons „Magnolia“, die das Ungeheuerliche mit dem Wesentlichen eines Menschenlebens verbandeln möchten. Schicksal mit Sinn. Tod mit Weisheit. Und das Praktische ist: Niemand kann etwas falsch machen, solange er an den neuralgischen Punkten seines Lebens nicht schläft. Es geschieht einfach.

So etwa jenem Selbstmörder. Er hat keine Ahnung von der Frau ein paar Stockwerke tiefer, die im Streit auf ihren Alten schoss, den Gatten verfehlte – nicht aber den jungen Lebensmüden, der gerade, vom Dach kommend, an ihren Fenster vorbeisegelte. Tödlich getroffen fällt der Depressive auf die Markise über dem Laden im Erdgeschoss. Der starke Stoff hätte ihm das Leben gerettet.

Derartige Unfälle verspinnt „Magnolia“ zu einem bedeutungsvollen Rätsel, dessen Lösungswort die heimliche Hauptrolle des Drei-Stunden-Epos präsentiert: den Zufall in der Rolle des erfahrenen Weichenstellers.

Da gibt es den Gelegenheitsmacker Frank Mackey, der aus seinem komplexbeladenem Verhältnis zu Frauen das Geschäft seines Lebens gemacht hat. Als TV-Guru ruft er seine Gemeindemitglieder auf zur „Eroberung und Zerstörung von Frauen im Namen des allmächtigen Schwanzes“. Tom Cruise spielt Mackey als Obzönitäten spuckenden Primaten, der zu jeglicher Entscheidungsfindung erst einmal den eigenen Achselgeruch inhaliert. Bis ihn die Vergangenheit als verlorener Sohn einholt und zur Auseinandersetzung mit wahreren Werten zwingt. Sein Vater (Jason Robards) stirbt derweil einsam vor sich hin. Und dass dessen zweite Frau Linda (Julianne Moore) ihre späte Liebe zu dem Mann erkennt, den sie zeitlebens nur als Geldsack schätzte, nützt dem Todkranken nicht mehr viel. In einer Quizshow für Kinder kämpft gleichzeitig Stanley Spector (Michael Bowen) um ein letztes bisschen Würde, hat der kleine Besserwisser doch gerade vor lauter Erfolgsdruck die Studiobestuhlung durchgenässt. Et cetera.

Amerikanische Geschichten, die das wirkliche Leben bedeuten sollen und trotzdem so aussehen, als gehörten sie zur Oberfläche eines riesigen Bildschirms. Nur zweimal hält Anderson das Programm an. Beim ersten Mal verbindet er seine Protagonisten für einen Augenblick in einem Lied: „It¹s not ... going to stop“. Dann singt jeder eine Zeile und schickt schließlich im Chor einen kollektiven Schauer über die eigene Richtungs- und Belanglosigkeit aus. Beim zweiten Mal bremst eine recht surreale Katastrophe den Plot aus. Der Himmel lässt die Kröten der Vergangenheit buchstäblich herunterregnen. Ein Unwetter, dass keinen ausnimmt. Danach ist die Luft klar. Die Protagonisten helfen sich gegenseitig auf die Beine. Sie räumen auf. Sie machen weiter.

Kaum ein Film wurde so gespannt erwartet wie „Magnolia“, der nach dem Zockerfilm „Hard Eight“ und der Porno-Nostalgie „Boogie Nights“ dritte Film des 29-jährigen Paul Thomas Anderson. Hin und wieder merkt man seinem Film denn auch die Strapazen an, sich nach Größerem zu strecken und surreale Willkürlichkeiten als schwere Bedeutsamkeiten zu verkaufen. Und wenn es zu der amphibischen Landung aus dem Nichts kommt, spielt „Magnolia“ gleich mit der ganzen Wucht biblischer Plagen. Doch selbst in der Bibel waren diese Manöver das allerletzte dramaturgische Mittel einer stinksauren Macht, um die sündige Welt endlich wieder auf sich aufmerksam zu machen. Sein Donnerwetter hat das „Wunderkind“ der Branche mit „Magnolia“ jedenfalls einfallsreich erledigt. Paul Thomas Anderson wird man fürs Erste nicht übersehen können.

„Magnolia“. Regie: Paul Thomas Anderson. Mit Jeremy Blackman, Tom Cruise. Heute, 21 Uhr, Berlinale-Palast, 15. 2., 21 Uhr, Royal Palast, 16. 2., 22.30 Uhr, International