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CDU müsste man sein

Thomas wirkt müde. Sehr müde. Seit einigen Wochen schon. Als er kürzlich in seiner Küche neben einem zum dritten Mal ausgekochten Teebeutel saß, brauchte ich mehrere Minuten, bis ich mit Sicherheit sagen konnte, wer Thomas und wer der Teebeutel ist.

Thomas ist kein Einzelfall. Alle hat sie erfasst, die Postmillenniumsdepression. In den Tagen vor dem Jahreswechsel wusste man genau, bald passiert was ganz Schlimmes, etwas so Furchtbares, dass wir alle mit den Ohren schlackern werden. Daraus ist ein enormes Gefühl der weltumfassenden Gemeinschaft erwachsen. Das ist jetzt weg. Das Ganze lässt sich mit dem Besuch eines Horrorfilms im Kino vergleichen, bei dem man auch ständig denkt: „Oje, gleich passiert etwas total Schreckliches.“ Ja, vielleicht denkt man sogar: „Bitte, bitte, lass es nicht geschehen.“ Aber wenn das Schreckliche dann wirklich passiert, ist man enttäuscht, geht aus dem Kino, denkt „blöder, langweiliger Film“ und ist deprimiert. Genauso war das im Prinzip auch mit diesem Millenniumszeug. Praktisch nix ist passiert, und das bisschen, was passiert ist, konnte man nicht sehen, weil’s total neblig war.

Jetzt fehlt einfach die kollektive Katastrophe, der große Abgrund, auf den wir alle zusteuern. Natürlich, private Katastrophen gibt es noch genug. Für Thomas zum Beispiel. Der hat fest mit dem Millenniumbug gerechnet. Jetzt stehen tausende von Konservendosen in seiner Wohnung. Eigentlich hatte er gedacht, er könnte die nächsten Jahre von dieser Investition, diesen Konserven, leben. Das wird er jetzt auch, aber eben anders als gedacht. Solche Einzeldesaster sind schön und gut, aber den gewaltigen gemeinsamen Abgrund können sie eben nicht ersetzen.

Nur die CDU, die hat’s gut. Die hat noch ihre kollektive Katastrophe. CDU müsste man sein. Horst Evers