Terzjubel der ganzen Ball-Mannschaft

■ Die Kleine Kantorei brillierte mit Bachs h-moll-Messe in der Kirche Unserer Lieben Frauen

Es könne ja sein, dass in Hunderten von Jahren der Fußball ausgestorben ist. In dieser besseren, doch immer noch nicht irrtumsfreien Welt würden schludrige Wissenschaftler vielleicht glauben, dass bei diesem merkwürdigen Spiel nicht elf, sondern 25 Personen je Mannschaft hinter dem Ball her sind. Und zwar in Unkenntnis der Tatsache, dass von jenen 25 Spielern ganze vierzehn die Ersatzbank drücken statt über den Rasen zu stolpern. Eines Tages aber entdeckt jemand die Sache mit der Ersatzbank.

Genau in dieser Situation befindet sich die Bachforschung nach Meinung des amerikanischen Musikwissenschaflers und Dirigenten Josua Rifkin. Mit dem Ersatzbank-Argument will er beweisen, dass Johann Sebastian Bachs „Hohe Messe in h-Moll“ ausschließlich von Solisten gesungen worden sei. Die 25 Fußballspieler sind dabei auf das berühmte Leipziger Dekret von 1730 „Entwurff einer wohl bestallten Kirchen Music“ zu beziehen, in dem Bach drei bis vier Sänger pro Stimme verlangt – berücksichtigend, dass immer einige krank sind.

Die 1982 zum ersten Mal veröffentlichte These Rifkins hat in ihrer Methode etwas Sportlich-Schickes, aber auch Abenteuerliches. Rifkin baut alles auf ausschließlich negativer Beweisführung auf: „Bachs Stimmen enthalten nichts, was als Beweis dafür gelten kann, dass mehr als ein Sänger in ihnen gelesen hätte“. Und da nur ein Stimmsatz erhalten ist, ist die h-Moll-Messe ein solistisches Werk. Aber nicht nur Fakten wie die reich besetzte Dresdner Hofkapelle und Bachs bekannte Klagen über die qualitativ und quantitativ nie ausreichenden Sänger scheinen dagegen zu sprechen, sondern auch die Faktur der Musik selbst.

Fakt bleibt: die überdimensionalen chorischen Anforderungen – sowohl technischer als auch inhaltlicher Art – der h-Moll-Messe sind eigentlich von einem Laienchor nicht oder kaum zu leisten. Es spricht nicht gegen die jetzige Aufführung der Kleinen Kantorei Unser Lieben Frauen, dass man sich das noch einmal klar macht. Was dieser vierzigköpfige Chor unter der Leitung von Hans Dieter Renken leistete, war in jeder Hinsicht eindrucksvoll. Sicher und fließend saßen die Koloraturen und ohne Substanzverlust bis zum Schluss die Höhen: Es ist in einem solchen Werk doch oft der Fall, dass allen am Ende ein wenig die Puste ausgeht. Nicht hier: Hans Dieter Renken gelang es sogar mustergültig immer wieder die Spannung kulminieren zu lassen, zum Beispiel im groß angelegten „Dona nobis pacem“. Dieser Chor kann sich enorme Tempi erlauben, und so wurde das große fließende „Sanctus“ mit seinem wunderbaren Terzenjubel vielleicht zu einem Höhepunkt der Aufführung.

Da überhören wir gerne, dass dann einige Klangfarben einfach fehlten (zum Beispiel hätte „et in terra pax“ etwas lapidarer und breiter daherkommen können und „sepultus est“ etwas geheimnisvoller verebben). Die in Tempo, Artikulation und tänzerischen Gesten an der historischen Aufführungspraxis orientierte Darstellung hatte insgesamt eine eindrucksvolle Atmophäre und Geschlossenheit.

Dazu trug nicht unerheblich „Les Enchantants“ bei, ein historisches Orchester. Dessen zum Teil überragende Solisten überzeugten: so der Hornist Ulrich Hübner mit einem unglaublichen Legato, das bei diesem sperrigen Instrument Achtung abringt. Trotz der Kompetenz der Solisten ragte der durchsetzungsfähige und klangschöne Altus Jan Kollmar um einige Grade heraus – ein Beispiel dafür, wie in den letzten Jahren die Szene der Countertenöre sich in einer geradezu explosiven Weise entwickelt hat. Stehende Ovationen in der ausverkauften Kirche.

Ute Schalz-Laurenze