Zum Gähnen schön

■ Die übermüdete Hamburger Künstlerin Lili Fischer präsentiert in der Galerie im Park eine ausgesprochen umfangreiche Milchmädchenrechnung

Zuweilen ist das Leben so, dass man den Mund weit wie ein Scheunentor aufreißen muss. Wer etwa wie Lili Fischer tagelang eine Ausstellung in zwei Räumen aufbaut, zudem unter Zeitdruck am eigenen Künstlerinnenbuch arbeitet und außerdem im Kopf eine Performance zur (gestrigen) Vernissage vorbereitet, der darf vor Erschöpfung schon mal gähnen, was die Gesichtsmuskeln hergeben.

Lili Fischers Gesichtsmuskeln geben einiges her und eröffnen so dem Betrachtenden im wahrsten Sinne des Wortes tiefe Einblicke. Und was man dort nicht erfährt, erfährt man spätestens in den beiden Ausstellungsräumen der Galerie im Park, in denen die Hamburger Künstlerin ihre Ausstellung „Milchmädchenrechnung“ zeigt.

Milchmädchenrechnungen sind in der Regel das Resultat eines Denkprozesses, der vorzeitig abgebrochen wurde. Irgend jemand verlangt halt immer eine Rechnung, selbst dort, wo das Bilanzieren im Grunde nicht möglich ist. Das Leben zum Beispiel, lohnt es sich unterm Strich? Summa summarum schon, scheint die 52-jährige Lili Fischer zu sagen. Und irgendwie auch nicht. Denn von einem Frauenleben, durch die Jahrhunderte betrachtet, bleibt am Ende eher seltsames zu berichten.

Vom kleinen Mädchen über die Mutter bis zur alten Frau stilisiert Fischer an den Wänden der abgedunkelten Galerie in Form von sechs übergroßen schwarzen Schattenfiguren idealtypisch jene Etappen, die frau auf dem Weg von kleinen Mädchen über die junge Mutter bis zur alten Dame letztlich immer hinter sich bringen muss. Begleitet wird sie auf diesem Marathon, auch das bei allen gleich, von Eltern und Großeltern. Wenn alles normal läuft, verwandelt sich die Verwandtschaft irgendwann in Geister, die dann als große, flauschigweiße Wollgesichter an Galerienwänden hängen und sich auch im Tod nicht davon abhalten lassen werden, aus offenen Mündern ihren Senf zu allem dazu zu geben.

Was steht noch auf der Rechnung? Taschen, jede Menge Taschen. Vom Kinderranzen über den Douglas-Beutel bis hin zum Einkaufswägelchen schleifen Frauen zu verschiedenen Zeiten die unterschiedlichsten Behältnisse mit sich herum. Fischer hat sie, einer skurrilen weiblichen Lebenslinie gleichend, auf dem Galerieboden angeordnet, parallel zu einem Teil der Schattenfiguren. Ergänzt wird diese Anordnung in einem zweiten Raum durch Zeichnungen und Fotos, die diverse Vorstufen der Installation über einen mehrjährigen Zeitraum und Momentaufnahmen von kontextbezogenen Performances zeigen.

Womöglich sind Milchmädchenrechnungen so: Strotzend von geradezu krachledernder Symbolik, voller aufdringlicher Metaphorik, die einfach mal so einfach mal wieder „Frau“ sagt und dabei an Mamis mit Handtäschchen denkt, in der Mitte des Raumes noch ein paar „Karriereleitern“ dazu stellt und glauben machen will, so sei das Leben. So zumindest wirkt das alles, doch irgendwie stört das gar nicht. Stattdessen freut man sich an der spürbaren und erträglichen Leichtigkeit des Seins, die über diesen Arrangement liegt, und die die dunklen Schatten an der Wand fliegen, die Verwandschaft schweben lässt und dem Dasein und der Erinnerung jene bleierne Schwere nimmt, die SeelenklempnerInnen dort immer wieder zu verorten wissen. Und wo bleibt die im Geschlechterkampf geschulte Ideologiekritik? Ach, scheiß mal was drauf! Diesmal wenigstens...

Lili Fischers Milchmädchenrechnung ist der Auftakt eines von der Haus-im-Park-Galeristin Patricia M. Räbiger entwickelten Expo-Jahres-Projekts. Unter dem Motto „Reinholen, was ausgegrenzt ist“ hat Räbiger ein Konzept entwickelt, das Teil eines Expo-Projekts zur seelischen Gesundheit ist, an dem sich das Zentralkrankenhaus-Ost in diesem Jahr beteiligt. Vorgesehen hatte Räbiger neben Fischers Beitrag noch Ausstellungen der Bremer Künstlerinnen Janet Fruchtmann und Judith Schmitt sowie einer KünstlerInnengruppe aus einem Hannoveraner Knast. Ob dieses Ausstellungsprojekt realisiert wird, ist momentan offen, da Räbiger die Galerie verlassen wird. zott

In der Galerie im Park (Zentralkrankenhauses Bremen-Ost, Züricher Str. 40) bis zum 6. Mai zu sehen. Öffnungszeiten: Mi-So, 15-18 Uhr. Zur Finissage zeigt Lili Fischer um 18 Uhr eine Performance. Zur Ausstellung ist Fischers Künstlerinnenbuch „Milchmädchenrechnung“ erschienen (39 Mark).