Das geisteskranke Märchen

Heute hat Volker Schlöndorffs umstrittenes RAF-Drama „Die Stille nach dem Schuss“ Premiere auf der Berlinale. Die Bilder nach dem Schuss: Deutsche Filme über den Terrorismus. Ein Überblick ■ Von Georg Seeßlen

Paradoxerweise war der Terrorismus auch das letzte politische Thema des deutschen Films

Das ist so eine Sache mit den historischen Ereignissen – man kann sie nicht verstehen, weil man entweder zu nahe dran oder zu weit weg ist. Manchmal sogar beides gleichzeitig.

Die Beziehung zwischen dem Kino und dem, was man als radikalste politische Praxis oder, wie Rainer Werner Fassbinder, als „geisteskrankes Märchen“ bezeichnen kann, reicht tief: Man vermutete den Kameramann Holger Meins als Regisseur des Films „Anleitung zur Herstellung eines Molotow-Cocktails“, vom Film kamen Philipp Sauber, der 1975 durch Polizeikugeln starb, Schauspieler waren Christoph Wackernagel und Horst Söhnlein.

Fassbinders „Ich werfe keine Bomben, ich mache Filme!“ betonte noch einmal die Analogie. In seinem Film „Die dritte Generation“ spricht der Leiter einer Terroristengruppe am liebsten über Bresson und Tarkowskij. Umgekehrt war es eine verbreitete Erinnerung der Menschen im Maquis des Terrorismus, dass sie ihr Leben wie einen Film erlebten. Und in den Ereignissen vom Herbst 1977, von der Entführung Schleyers bis zum Tod im Hochsicherheitstrakt von Stammheim, fand das Unklare und Ambivalente auch eindeutige Bilder, die für den medialen Mainstream geeignet waren. Abschlussbilder.

Aber die Überführung eines „blinden Flecks“ in der deutschen Nachkriegsgeschichte in eine allgemeine Ikonographie, die mediale „Bewältigung“, ist eine Seite. Die andere ist die Erfüllung einer Ahnung: Der deutsche Film „träumte“ in seinen Helden, den sozialen Außenseitern, den zögernden Bürgerkindern, von einem scheiternden Opfer/Erlöser. Doch das Sozialmärchen, das das junge Kino erzählte, war schon von der Geisteskrankheit infiziert: im Akt der Gewalt verloren diese Helden ihre Wirklichkeit, sogar die „einsamen Jäger“ oder der Wilderer „Mathias Kneissl“ (1970) von Hauff. Erst Fassbinder durchbrach mit „Die dritte Generation“ (1978) die mythische Opferkonstruktion. Während die Terroristen, im Sinne von Karl Marx, als Verbrecher technologische Macht auf der anderen Seite „produzieren“, setzten sie das paranoide Spiel der Abhängigkeit und Unterdrückung fort: Die terroristische Zelle funktioniert unter anderem als die karikaturistische Übertreibung jener Familie, der man zu entkommen trachtete.

Die Frage nach dem möglichen Subjekt einer Revolution stellte sich in der Unmöglichkeit, auch filmisch eine Verbindung herzustellen zwischen dem Ausgestoßenen der Straße, den „authentischen“ Menschen des Proletariats, und der bürgerlichen Studentenrevolte. So beschrieben die Filme nicht nur das Scheitern dieser neuen „Revolutionäre ohne Revolution“ – sie beschrieben vor allem auch die eigene Schwierigkeit, eine „Einstellung“ zum Terrorismus zu finden, die Bewegung der Bilder mit der Bewegung dieser gewalttätigen politischen Bewegung in Beziehung zu bringen.

Wie Moravia den Terrorismus als „Ausdruck der Frustration des Kleinbürgertums“ sah, wie Pasolini sich auf der Seite der Polizisten eher als auf der der protestierenden Studenten sah, so mussten die meisten Filme über den Terrorisimus eben Filme über jenes Kleinbürgertum selbst sein, dem die Terroristen und dem die Filmemacher entstammten. Wut konnte also wohl nur jemand erzeugen, der weder zu dieser Klasse noch zu der „Linken“ gehörte, die sich in ihr selbst erhalten wollte. Die Schurkenrollen bekamen in vielen Filmen die Presseleute, in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ebenso wie in Fassbinders „Mutter Küsters Fahrt zum Himmel“ (1975). In Sinkel und Brustellins Beitrag zu „Deutschland im Herbst“ geht es um eine junge Frau, die eigentlich politische Filme machen will und „privat“ einem Fernsehredakteur „gehört“.

Nach der Nachrichtensperre von 1977 und einem Pakt zwischen Politik und Medien im Dienste der Fahndung war da bereits eine zweite Schuld. Hatten die Terroristen unklare „Sympathisanten“, so die staatliche Reaktion unklare Komplizen in allen Bereichen der Kultur. Der Zugang zur Wahrheit wurde in einem kollektiven Verdrängungsprozess verstellt, um den Mythos des geisteskranken Märchens aufrechtzuerhalten, der zu einer Art negativem Gründungsmythos der Nachkriegsgesellschaft werden sollte.

Die Kollektivarbeit „Deutschland im Herbst“ spiegelt am ehesten die Ratlosigkeit rund um die Begräbnisse von Schleyer und von Baader, Ensslin und Raspe. Rituale, die sich selbst ad absurdum führen, von ihrer Falschheit erfüllt. In diesem Film konnte etwas geschehen, das in den anderen nicht möglich schien: ein Verlust der Kontrolle, ein cineastisches Empfinden. Hauffs „Stammheim“ dagegen versucht, sich mit radikaler Strenge gegen den inneren Tumult zu wappen; schon räumlich so isoliert, als wäre die Isolation Erfahrung und nicht Symbol.

Vom geisteskranken Märchen bleibt hier nur eine absurde und hilflose Inszenierung des bürgerlichen Rechts übrig, ein doppeltes Scheitern. Auf das Scheitern der Terroristen folgt das Scheitern der Justiz, und darauf, könnte man fortsetzen, folgt das Scheitern der Kunst, das Scheitern der Bilderproduktion. Gina Lollobrigida distanzierte sich als Jury-Präsidentin von der Entscheidung, den Film in Berlin mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen. Aus politischen Motiven, gewiss. Aber auch, weil sie sich darüber empörte, dass dieser Film nicht „Kunst“ war.

Paradoxerweise war der Terrorismus auch das letzte politische Thema des deutschen Films, und es wurde zum Problem des Verrats. Die Proteste der guten Bürger dagegen, dass Terroristen auf ihrem Friedhof begraben wurden, die Geldspende des Kegelklubs, damit für die noch lebenden Terroristen Stricke gekauft würden: die Gesellschaft jener bleiernen Zeit erlaubte sich einen Faschisierungsschub. Dafür konnte es keine Filmbilder geben. Kein Film schien in der Lage zu sein, die Gewinner des „Todesspiels“ zu sehen. „Stammheim“ sagt Hauff, „ist ein menschliches Drama, mit vielen Zügen von Tragödie und Wahnsinn“. Dass er das Ende nicht zeigt, ist einsichtig: Der Prozess selber, die Haftbedingungen, die Stimmung sind ein Todesurteil.

So kommt eine vierte Generation nur noch als kabarettistisches Event über uns: Philipp Grönings „Die Terroristen“ (1992) etwa, die Helmut Kohl tatsächlich zu einem Protesbrief provozierten – zu einer Zeit, in der sich die Politik mit dem Terror von rechts weitgehend abfindet. Die Dinge werden Farce oder Geschichte, auch in der Bilderproduktion. 1997 kam Heinrich Breloers Doku-Drama „Todesspiel“ als „großes Fernsehereignis“ heraus. Es war, als wäre damit endlich Vergangenheit geworden. Die Vermischung von Spielszenen und Dokumentation wollte sich als „Gesamtbild des geistig-politischen Klimas“ dieses Herbstes verstehen. Auch er zeigt eine historisch-politische Metaphorik, die schon die „Versöhnung“ nahe legt: die Terroristen als Kinder der Nazis, die deren Fluch erfüllten. Und doch bleibt auch in diesem Film alles „Gegenwart“. Was Geschichte wird, ist noch lange nicht Bewusstsein.