Schlagloch
: Die Ehre der Prizzis

Von Kerstin Decker

Ehre ist ansteckend. Kaum war Haider in Deutschland, entdeckten alle ihre Ehre

Manche Wörter kann man einfach nicht mehr hören. Das Wort „Spende“ zum Beispiel. Oder „Affäre“. Oder „Millionen“. Dabei sind es alles recht schöne Wörter, einzeln. Aber man sollte doch vorübergehend eine Benutzungsgebühr erheben. Oder „Ehre“. Die Ehre muss etwas Türkisches sein. Man liest immer von ihr, wenn gerade wieder ein junges türkisches Mädchen sterben musste. Eben war es die 15-jährige Muhbet Cengiz aus Südostanatolien. Die eigenen Verwandten haben sie hingerichtet. Wegen der Ehre. Ehre heißt türkisch Namus.

Helmut Kohl ist gar kein Türke. Und trotzdem, sagt er, hat er eine Ehre. Das kam vielen verdächtig vor. Die Süddeutsche Zeitung schrieb sofort ein großes Feuilleton, in dem sie an Hand des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ nachwies, dass es Kohls Ehre gar nicht gibt. Denn die Ehre „hat“ man nicht, sondern sie wird einem zugesprochen. Vom Gemeinwesen. Wenn wir jetzt also alle Kohls Schweigen unehrenhaft finden, so sieht es furchtbar schlecht aus für Kohls Ehre. Die Süddeutsche atmete auf. Ehre ist also „eine soziale Konstruktion“! Etwas richtig gut Demokratisierbares. Diskurstheoretisch gesprochen gar ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis?

Man kann das auch an Muhbet zeigen. Die 15-Jährige war unverheiratet und schwanger. Sie hatte nun solche Angst vor ihren Verwandten, dass sie das Kind heimlich bekam und aussetzte. Das Baby starb. Auch in Südostanatolien ist die Ehre nicht das, was einer „hat“. Auch in Südostanatolien wurde zuvor alles ausdiskutiert. Der Familienrat trat zusammen und beschloss – soll man sagen: quasi demokratisch? – den Tod Muhbets. Ein Bruder wurde mit der Hinrichtung seiner Schwester beauftragt. Und versagte. Das Jagdgewehr des Vaters klemmte. Die Exekution wurde verschoben. Da gelang es einem zweiten Bruder Muhbets, die Familienehre zu retten.

Entweder Gesine Schwan, die Präsidentin der Universität Frankfurt (Oder), hat früher mal „Die Ehre der Prizzis“ gesehen, oder sie hat auch von der Sache mit Muhbet gelesen. Denn Gesine Schwan dachte im Tagesspiegel gleich den Ernstfall: Was, wenn nicht nur Kohl, sondern auch noch andere mit ihm an so undemokratische Dinge wie die Ehre glauben? Gesine Schwan nennt solche Glaubensrichtungen „das politisch-kulturelle Unterfutter“ der Gesellschaft. Es sei noch nicht genügend erforscht. Gesine Schwan formulierte das so: „Ob Kohl es gelingt, Teile der deutschen Gesellschaft und ihrer Eliten für sich zu mobilisieren, daran wird man ermessen können, wie tief die Demokratie wirklich bei uns verankert ist.“

Gesine Schwan fürchtet das Schlimmste. „Resultate der qualitativen Forschung“ deuteten an, „dass alte Mentalitäten unter der Decke ,demokratischer‘ Einstellungen zäh fortleben“. Was sie eben daran erkannte, dass man auch in einer demokratischen Partei ein „undemokratisches Ehrverständnis“ fortsetzen konnte. Also diese ureigenste Angelegenheit der Prizzis und Südostanatolier?

Wir können nicht mehr ausweichen. Wir müssen die Frage jetzt stellen: Ist Helmut Kohl eine Gefahr für die Demokratie?

Wahrscheinlich hat Gesine Schwan Recht. Denn sogar Franz Xaver Kroetz empfand „einen kurzen Augenblick lang“ Respekt für Kohl. Der Mann, dachte Kroetz, „verteidigt nun gegen alle Widerstände seine Ganovenehre und verrät seine Freunde nicht“. Das gefiel Kroetz. Kroetz ist Dramatiker. Kroetz war mal Kommunist, auch etwas sehr Dramatisches. Gesine Schwan würde ihm vermutlich nicht gefallen. Viel zu undramatisch. Es gibt auch kein demokratisches Drama. Woran man erkennt, dass nicht nur Politiker, sondern vor allem Dramatiker eine grundsätzliche Gefahr für die Demokratie sind.

Und hatte Kroetz nicht auch gesagt, er würde viel lieber mit Haider ein Bier trinken gehen als mit Schüssel? Schüssel findet er nämlich ätzend. Haider nicht. Hat Haider eigentlich eine Ehre? Richtige Rechte müssen sowas haben. Ehre ist ja nicht so sehr ein ostanatolischer Prizzi-Begriff, sondern er gehört mitten auf die deutschen Schlachtfelder, wo es nicht bloß um die Ehre, sondern vielmehr um „das Mark der Ehre“ ging. Treue, fand Friedrich Schlegel, ist das Mark der Ehre. Schlegel war Romantiker. Die von der SS waren keine Romantiker und borgten trotzdem den Spruch von ihm. Haider besucht manchmal jene, die aus den Treue-ist-das-Mark-der-Ehre-Tagen noch übrig sind.

Treue? Erklärt sie nicht auch das Phänomen Kohl? Diese ungeheure Treue zu den Getreuen mit dem vielen Geld. Und dazu eine völlig unmoderne Magie des Namens: „Nie sollst du mich befragen...“.

Ehre ist ansteckend. Kaum war Haider in Deutschland, entdeckten alle ihre Ehre. Die Künstler entdecken schon seit Wochen die Künstlerehre (weshalb Elfriede Jelinek ihre Stücke nun nicht mehr in Österreich spielen lassen will wie einst Thomas Bernhard). Die Journalisten aber entdeckten ihre Journalistenehre. Journalistenehre ist es zum Beispiel, den Wolf nackt zu zeigen. Ihm seinen Schafspelz wegzunehmen. Vermutlich hätte das auch geklappt, wenn Haider nur einen gehabt hätte. Aber die Treue, das Mark und die Ehre sind Haider schnurzpiepegal. Er trägt sowas nicht mit sich herum. Überhaupt keine erkennbaren Eigenschaften. Haider ist der neue Mann ohne Eigenschaften. Etwas sagenhaft Modernes also. Ein Null-Medium. Eine Projektionsfläche. Alle wollten Haider kriegen und schauten stattdessen in einen Spiegel. Und erkannten ihr eigenes Spiegelbild. Und erkannten es nicht. Sowas macht unzufrieden. Und es verletzt – die Ehre. Erich Böhme flickte am Sonnabend in der Berliner Zeitung notdürftig seine verrutschte Journalistenehre.

Haider ist ein Rechtsaußen neuen Typs. Er würde sich nie auf etwas verpflichten lassen, was unwiderruflich und nur von ihm wäre. Haider ist eine Funktion des Kontextes. Insofern gleicht er formal eher Schröder und Fischer. Die sind auch Funktionen ihres Kontextes. Eine neue Politikergeneration. Ungemein wandlungsfähig.

Alle wollten Haider kriegen und schauten stattdessen in einen Spiegel

Kohl ist das nicht. Er hat ein Ich, aus dem er nicht herauskann. Aber wer so ein unmodernes Ich mit sich herumträgt, hat der nicht auch eine Ehre? Selbst wenn sie gerade sehr an jene der Prizzis erinnert? Die Postmodernen wollten das Ich auflösen in viele Ichs. Patchwork-Identity nannten sie das. Ich ist immer ein anderer. So ein Ich besitzt keine Ehre. Es ist ohne Mitte. Aber solange das Ich noch ein umgreifendes Ich hat, Residuen und Rückzugsräume, ist es ein Universum für sich – hat es eine Ehre. Diese Ehre wäre dann der Gegenpol zu den südostanatolischen, soll man sagen: Ich-losen?, Exekutoren einer blinden kollektiven Moral.

Gesine Schwan findet, das Einzige, was uns jetzt noch rettet, ist, dass wir tief innen genauso demokratisch und gut werden, wie die Demokratie es selbst ist. Einen integrierten Verfahrensregelkreis verlangt sie also.

Stellen wir uns das mal vor. Als Erstes sterben natürlich die Dramatiker aus. Heiner Müller hat da schon mal ein Zeichen gesetzt. Dann folgt Kohl, noch unbeweint. Als Nächstes kommen wir selbst dran. Nun vielleicht Schröder und Fischer. Es folgen Fraktionsvorsitzende, Schatzmeister sowieso. Zum Schluss aber gibt es nur noch Jörg Haider und Gesine Schwan.

Gut, dass wir das nicht mehr erleben müssen.