Skandal: „Darf so jemand für Deutschland singen?“

Aus der Vorentscheidung zum Grand Prix Eurovision bastelte der geschäftstüchtige NDR eine Kultsendung – und macht rücksichtslos Quote (morgen, 20.15 Uhr, ARD)

Jürgen Meier-Beer geht lächelnd durch das Foyer der Bremer Stadthalle. Als der NDR-Verantwortliche für die deutsche Vorentscheidung zum Grand Prix Eurovision die Pinnwand mit den aktuellen Presseausschnitten zu seinem Ereignis passiert, scheint er besonders zufrieden: Aus nahezu allen Zeitungen des Landes sind Artikel über sein Erfolgsprojekt darauf festgesteckt.

Das Thema ist fast immer das gleiche, ob nun in der Münchner Abendzeitung oder im Kölner Express: Darf einer wie Stefan Raab für Deutschland singen? Verkommt der Wettbewerb zur Comedyshow nach Noten? Kurzum: Der Wettbewerb ist der Boulevardpresse Schlagzeilen wert, was darauf hindeutet, dass deren Leserschaften sich für den Stoff, aus dem diese Unterhaltung ist, interessieren.

Das war in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht immer so: Jahr für Jahr verweigerten sich die aufmerksamkeitsstärksten Gazetten Langweilern wie „Wind“ oder den „Flippers“ – oder Daniel Kovacs und Andre Stade. Sie waren zu clean, zu schlagerhaft für eine lüstern-schmutzige Erörterung. Intellektuell formuliert: Sie waren nicht diskursfähig.

Der Grand Prix war keine TV-Leiche, roch aber schon

Dass die Eurovision, wie der Popwettbewerb intern kurz genannt wird, inzwischen in der ARD zur quotenstärksten Musiksendung im Popularbereich avancieren konnte, hat mit dem NDR zu tun – und mit dem Umstand, dass der Grand Prix vielleicht noch keine TV-Leiche war, aber doch schon ein wenig streng roch.

1995 schließlich warf der damals verantwortliche MDR in Dresden den Bettel hin. Das deutsche Duo Stone & Stone, ohne Zuschauerbeteiligung nominiert, errang in Dublin nur einen Zähler, belegte den letzten Platz und Kanzler Helmut Kohl soll aus Bonn seine Unzufriedenheit darüber in Richtung des Schreibtisches von MDR-Intendant Udo Reiter geraunt haben. Der Kohlianer Reiter gab entnervt die Federführung für seine Anstalt ab. Niemand wollte sie haben – bis der NDR in Person seines Unterhaltungskaders Jürgen Meier-Beer zugriff.

Und der Endvierziger, selbst eher ein Freund gediegener Mittelschichtkultur von der Sorte Giora Feidmans, begriff die Eurovision als Chance. Abgeschafft wurde zunächst die Wertung über Jurys: „Wir dachten, wenn wir den demokratischen TED einführen, dann sind die Zuschauer selbst dafür verantwortlich, wenn Deutschland sich international einmal mehr blamiert.“ Doch der TED ist noch keine Garantie für eine Auffrischung eines Ereignisses, das es schon seit 1956 gibt: Im ersten Jahr, als der NDR für die deutsche Vorauswahl zuständig war, gab es im Zuschauerprofil noch überproportional viele ältere Zuschauer – per Telefon meist eher Favorisierer biederer Schlagerkost.

1998 kam schließlich der Umschwung. Undergroundstar Guildo Horn wurde von seiner Plattenfirma EMI nominiert. Die Rekrutierungsprozedur war radikal geändert worden. Nicht mehr die Gema, Interessenvertretung der Komponisten und Texter, sollte Beiträge entsenden, sondern die Musikkonzerne selbst. „Die wissen doch am ehesten, was gerade auf dem Markt ankommt, was Jugendliche hören, was sie nicht abschreckt“, so Meier-Beer.

Die Zahlen machten die ARD glücklich; im Verhältnis schauten immer weniger RentnerInnen zu. Waren es 1996 noch 10,9 Prozent in der „Kernzielgruppe“ der 14- bis 49-Jährigen, stieg die Zahl im Jahr des Meisters Horn auf 27,5 Prozent. 1999 sank die Rate zwar auf 18,4 Prozent – doch die Musikshow blieb trotzdem die erfolgreichste aller deutschen Sender.

Trash gegen Schnulze:Da ist jede Schlagzeile recht

Dieses Jahr wird wieder ein gutes Jahr, so viel Selbstbewusstsein hat die NDR-Crew längst, um zu wissen, dass es einen Absturz nicht geben wird. Nicht nur, dass Stefan Raab mitmacht, der Mann, der den „Maschendrahtzaun“ in den Rang eines deutschen Möbels erhoben hat, sondern, fast besser noch, auch Corinna May, die blinde, blonde Bremerin, die voriges Jahr wegen eines Managementfehlers (ihr Lied gab es schon, wenn auch in einer anderen Fassung) disqualifiziert worden war. Raab und andere singen für die Jungen, die May soll dafür sorgen, dass auch die Alten und Gebrechlichen dranbleiben: Trash gegen Schnulze.

Und Boulevard-Schlagzeilen sind durchaus erwünscht, vor allem, wenn sie die Nation mit der Frage aufwiegeln, ob so jemand (Guildo Horn, Stefan Raab, Knorkator, Lottoking Karl) „für Deutschland singen“ dürfe. Jede Aufwallung ist dem Sender kategorisch recht. Nichts wäre so verheerend, als wenn keiner von dieser Sendung im Vorfeld Notiz nähme. Jürgen Meier-Beer: „Uns kommt es nicht darauf an, ob es für Deutschland würdig ist oder nicht. Wir wollen eine gute, erinnerungsfähige Sendung machen, die für alle Schichten und Generationen interessant ist. Am Ende sind es die Zuschauer, die bestimmen, wohin der Hase läuft.“ Wer das für opportunistisch oder wahllos hält, hat von neuer Mitte nichts verstanden. Oder nichts vom Fernsehen.

Jan Feddersen