Zwanghaft zwanglos

Matthias von Hartz zeigt in Leipzig „Pussy Talk“ über Sex, Reden und Leben mit 30. Theatre goes clubland, muss aber am Relaxtsein arbeiten ■ Von Eva Behrendt

„Bild“ fragt: Ist es Kunst oder nur obszön, wenn Schauspieler über Geilheit und Schwänze reden?

Vor vier Jahren auf der Fahrt zur Leipziger Buchmesse lief im Radio dauernd „Disco 2000“ aus dem Pulp-Album „Different Class“. Das verlieh dem damals noch nicht so proper sanierten Leipzig ein sehr poppiges Ambiente, ganz besonders dem faszinierend obszönen Völkerschlachtdenkmal, das sogar zehn Jahrzehnte lang very popular war und Wilhelminern, Faschisten und Sozialisten zur Inszenierung rauschender Parties diente. Heute, wo „Disco 2000“ sich sozusagen erfüllt hat, kommt man keiner Messe wegen, sondern um Theater zu sehen, Pop im Schauspiel Leipzig, Zweigstelle Neue Szene. Kein Stück wird gespielt, sondern „eine Abendunterhaltung“ inszeniert, mit dem zugkräftigen Titel „Pussy Talk“. Womit man zum Beispiel „Aristocats“ assoziieren kann, dann „Common People“, um synthetisch wieder bei Pulp zu landen.

Die Bild-Zeitung assoziierte nicht nur. Aus der Textgrundlage „For the One and Only“, die die belgischen Autoren Johan Vandenbroucke und Piet Arfeuille verfasst haben, filterte sie schon Wochen vor der Premiere liebevoll schlüpfrige „Stellen“ heraus, um eine veritable Was-darf-Kunst-Debatte vom Zaun zu reißen. Unter der bedrohlichen Überschrift „Schmuddel-Sex im Leipziger Theater“ wurde gefragt: „Ist es Kunst oder nur obszön, wenn vier Schauspieler über Schwänze, Geilheit und Hodensäcke sprechen?“ Erwartungsgemäß hat es Regisseur Matthias von Hartz keineswegs auf die zitierte Schmuddel-Trias abgesehen. Den Basistext, der auf dramatische Handlung verzichtet und eher harmlose Gesprächsfetzen über Alltagsfragen zu Liebe, Sex, Beziehung versammelt, benutzt der 30-Jährige als loses Material, das zaghaft durch die jetzt-Magazin-Rubrik „Nur für Jungs/Mädchen“ und um einige Zeilen des Frühwerks von Jochen „Blumfeld“ Diestelmeyer ergänzt wird.

Die annoncierte offene Form der „Abendunterhaltung“ und die Zusammenarbeit mit dem Leipziger DJ Uwe Fischer tönten schon vorab nach theatre goes clubland. Zumal von Hartz, der in Hamburg Theaterregie mit Falk Richter, Sandra Strunz und Nikolas Stemann studierte, bislang unter anderem an Bühnen wie Kampnagel (Hamburg) und der Gessnerallee (Zürich) inszenierte, die sich auch als Spielplätze der Theater-Avantgarde begreifen. Seit einigen Jahren bedeutet dies idealerweise, dass Theater sich von Schauspiel, Drama und hierarchischen Strukturen emanzipiert, Brücken zu Partyräumen baut, mit Identitäten spielt und hemmungslos popkulturelles Kapital zitiert, bisweilen auch manipuliert. Von Hartz’ erste Stadttheater-Inszenierung leidet allerdings schon unterm selbst verordneten Lounge-Anspruch, noch bevor der erste Schauspieler die Bühne betreten hat. Steif und still hocken die Zuschauer in einer kunstrasengrünen, zwanghaft zwanglos arrangierten Polsterlandschaft zwischen grün flimmernden Bildschirmen (Ausstattung: Ina Reuter). Fast so, als drohe jetzt wirklich Schmuddelsex.

Dabei wird bloß geredet. Und zwar restlos durchchoreografiert, deutlich aufgesagt und schön betont. Mit und ohne Mikro, synchronem Beinüberschlag auf dem Sofa oder lose im Raum verteilt, live abgefilmt oder vor einer Video-Installation (Alex Large) zwischen reduzierter Ikonografie und flackrigen Game-Szenarien, unterlegt von einem zurückhaltenden Beat, den die Schauspieler gar nicht oder so aufgreifen, dass es nach stillem Mitzählen ausschaut. Es geht um Liebe und Sex im dreißigsten Jahr, und alles, was das Publikum zu hören kriegt, hat es schon in Zeitschriften, Talkshows, im Freundeskreis oder eigenen Leben erfahren: Peinlich ist es, am Morgen nach dem One-Night-Stand den Vornamen des Bettgenossen vergessen zu haben, Trennungen und unerhörtes Begehren senken in der Regel das Selbstwertgefühl, und am Ende ausgedehnter Pubertäten steht schließlich die bescheidene Sehnsucht nach Kuschelwärme und Sicherheit forever.

Dass man schon kennt, was man hört, ist kein Drama. Gerade im Reden über die Liebe zeigt sich ja immer wieder, wie lustvoll Redundanz sein kann. Das Problem ist vielmehr, dass diese Gemeinplätze und -witze auch noch exakt den lauen Gags der Inszenierungseinfälle entsprechen, die so betont progressiv erscheinen wollen. Den netten, TV-entlehnten Trick mit der Überblendung von Live-Aufzeichnung und vorgefertigtem Video sah man beispielsweise erst kürzlich bei den norwegischen BAK-Truppen, allerdings mit einem Rot- statt Grünfilter. Na ja. Andere malen auch monochrome Bilder.

Oder will von Hartz mit all den Screens und Kameras die traurige Isoliertheit, den Fake noch der intimsten Äußerung herausstellen, das Grauen der Talkshow-Beichte auf die Bühne zerren und verzerren? Die stärkste Szene spricht dagegen. Liv-Juliane Barine, Eva-Maria Schneider-Reuter, Frank Riede und Christoph Schlemmer spielen nämlich einfach dann am besten, wenn sie aus ihren undefinierten Rollen fallen und – wohl geplant – improvisieren dürfen. Ganz zum Schluss entsteht dieses geheimnisvolle Moment von kontrollierter Privatheit, der Ununterscheidbarkeit von Inszeniertem und impulsivem Zufall. Die konzentrierte Spannung kommunikativer Unberechenbarkeit überträgt sich auf das Publikum, das technische Styling rückt in den Hintergrund und formt von dort her Ambiente, und auf einmal beginnt die Unterhaltung – leider nur zehn Minuten, keinen Abend lang.

„Pussy Talk“, nach Johan Vandenbroucke und Piet Arfeuille. Regie: Matthias von Hartz. Mit Liv-Juliane Barine, Eva-Maria Schneider-Reuter, Frank Riede, Christoph Schlemmer. Neue Szene im Schauspiel Leipzig. Nächste Vorstellungen: 19. und 20. Februar 2000