Keine Zukunft nirgends

Die Krise der CDU erwächst keineswegs nur aus der Spendenaffäre. Der Skandal offenbart nur die Existenzkrise der Parteienlandschaft ■ Von Bettina Gaus

Von einem „Putsch“ gegen Wolfgang Schäuble wollte CDU-Generalsekretärin Angela Merkel gestern nicht sprechen. Zu Recht. Putschisten wissen, was sie wollen: die Macht für ihre eigenen Ziele. Die Unionsfraktion und große Teile der CDU-Basis scheinen hingegen derzeit lediglich zu wissen, was sie nicht wollen: die Selbstzerstörung der Partei. Wie aber soll sich die aufhalten lassen? Darauf haben auch die Rebellen bisher keine Antwort gefunden.

Viele Konservative hatten die Erstarrung der CDU unter Helmut Kohl schon seit Jahren mit Unbehagen beobachtet und deshalb Schäubles Amtsantritt mit großen Hoffnungen begleitet. Es ist nur folgerichtig, dass der ewige Kronprinz jetzt nicht etwa deshalb seinen Hut nehmen musste, weil ihm eine schuldhafte Verstrickung in den Finanzskandal nachgewiesen worden wäre. Zum Verhängnis ist ihm geworden, dass er den Seinen keine Richtung vorgeben konnte und keinen Ausweg aus der Krise gewiesen hat. Im Aufstand gegen Schäuble hat sich Ratlosigkeit ein Ventil gesucht, deren Ursache tiefer liegt als das Entsetzen über die Affäre und ihre Folgen.

„Glaubst du, dass Kohl über Geld verfügt, das er nach eigenem Gutdünken verteilt?“ Es gibt wohl kaum jemanden, der diese Frage zu einem beliebigen Zeitpunkt während der Amtszeit des ehemaligen Bundeskanzlers entschieden verneint und der ein System schwarzer Kassen nicht wenigstens für möglich gehalten hätte, wenn auch nicht in dem jetzt bekannten Ausmaß.

Ungeachtet dessen wird in Medien und Öffentlichkeit derzeit der Eindruck erweckt, als hätte bereits ein erster konkreter Hinweis auf illegale Finanzpraktiken genügt, um die Verantwortlichen mit Schimpf und Schande aus Amt und Würden zu jagen. Ach ja. Die CDU-Führungsspitze hat kein Monopol auf bigotte Heuchelei. So lange die Position des Leitwolfs nicht umstritten war, haben sich viele in der Sonne seiner Gnade gerekelt, die jetzt zu denen gehören wollen, die ihn totgebissen haben.

Die abfällige Beschreibung der CDU als „Kanzlerwahlverein“ stammt aus den Gründerjahren der Bundesrepublik. Das Wort vom „System Kohl“ war schon lange vor den ersten Informationen über die Spendenaffäre zu einem festen Bestandteil der politischen Floskelsprache geworden. Nicht die illegalen Finanzpraktiken der Partei sind die wirklich neue Nachricht: Die wahre Sensation besteht darin, dass diese Finanzpraktiken von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung für unentschuldbar gehalten werden. Dafür bedurfte es einer tiefgreifenden Umwälzung der politischen Landschaft.

Der Niedergang der Christdemokraten begann in dem Augenblick, als sie ihre wichtigsten Ziele erreicht hatten. Der Kampf gegen Kommunismus und Sozialimus war gewonnen, Deutschland vereinigt. Aber der politische Sieg hat der CDU einen hohen Preis abverlangt. Die Partei verlor die bindende Klammer, die ihre verschiedenen Lager einte. Wozu bedarf es heute in einer säkularisierten bürgerlichen Gesellschaft noch einer christlichen, wertkonservativen Partei, die zugleich den Anspruch erhebt, nicht etwa national, sondern europäisch zu denken?

In der Abwehrschlacht gegen die linke Weltrevolution war den Konservativen jedes Mittel recht gewesen, auch das illegale. Der Finanzskandal der CDU ist nicht die erste Affäre in der Bundesrepublik. Niemals zuvor jedoch waren sich so große Teile der Öffentlichkeit in ihrem Urteil so einig. Die Tatsache, dassKohl sich nach dem Fall der Mauer noch fast ein Jahrzehnt an der Macht hatte halten können, steht dazu nicht im Widerspruch. Es braucht Zeit, bis eine grundlegende Veränderung ins Bewusstsein dringt. Aber die Frage, die sich der CDU heute stellt, reicht sehr viel weiter als die nach den unmittelbaren Konsequenzen aus dem Spendenskandal. Es ist die Frage nach ihrer Existenzberechtigung.

Diese Frage lässt sich nicht isoliert und ohne den Blick auf die andere Volkspartei, die SPD, betrachten. Auch ihr ist die verbindende Kraft abhanden gekommen. Den Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz hat sie für ausgeträumt erklärt. Das Ende der bipolaren Welt hat alle großen Parteien ihrer weltanschaulichen Grundlagen beraubt, die sie nach innen einigten und mit denen sie sich nach außen von anderen abgrenzen konnten. Die Ansicht ist inzwischen sehr weit verbreitet, dass die alten Kategorien von „rechts“ und „links“ nicht mehr gegenwartstauglich seien.

„Wir haben ja inzwischen ein eher folkloristisches Verhältnis zur Arbeiterbewegung“, sagte der SPD-Politiker Sigmar Gabriel zum Spiegel kurz vor seiner Wahl zum neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten. Das ist wahr.

Wie weit sich alle Volksparteien inzwischen von ihren weltanschaulichen Wurzeln entfernt haben, zeigt nicht nur der Blick auf diese selbst, sondern auch eine Analyse ihrer Trabanten.

Über Jahrzehnte hinweg war die Bild ein rechtsgerichtetes Kampfblatt, zugleich aber auch für den Verlag eine stets sprudelnde Geldquelle. Es ist bezeichnend, dass dieses Medium heute keine Notwendigkeit mehr dafür sieht, die Position des konservativen Lagers um jeden Preis zu stärken.

Die westdeutsche Öffentlichkeit hat sich daran gewöhnt, den ruhmlosen Abtritt einer etablierten Partei für unvorstellbar zu halten. Da mag sie sich täuschen. Aber die Anhänger eines politischen Lagers bleiben dennoch im Allgemeinen nicht lange heimatlos. Derzeit ist die politische Rechte auf der Suche nach einem neuen Forum. Es steht zu befürchten, dass sie es findet – außerhalb der CDU.

Helmut Kohl hat dafür gesorgt, dass in der CDU niemand ohne seine Fürsorge oder gar gegen ihn groß werden konnte. Der gegenwärtige Personalnotstand seiner Partei erklärt sich daraus aber nur teilweise. Mindestens ebenso wichtig ist die Tatsache, dass die Bedeutung von Parteiprogrammen beständig sinkt, während den Akteuren auf der politischen Bühne ein immer größeres Gewicht beigemessen wird. In der „neuen Mitte“ herrscht drangvolle Enge. Wenn es nur noch darum geht, wer die Ziele am besten durchsetzen kann, die alle Parteien gemeinsam als die richtigen beschreiben, reduziert sich Politik auf die Frage persönlicher Kompetenz.

Friedrich Merz, der jetzt im Amt des Fraktionsvorsitzenden als Nachfolger von Wolfgang Schäuble gehandelt wird, mag im Stande sein, diesen Posten auszufüllen. Aber wäre er als Person nicht auch für die FDP ein schmückender Gewinn? Die wenigen Hoffnungsträger, die der CDU geblieben sind und die nicht mit dem System Kohl in Verbindung gebracht werden, scheinen eher zufällig denn auf Grund zwingender Überzeugung in ihrer Partei gelandet zu sein.

Der SPD verschafft die Tatsache derzeit einen Vorteil, dass Gerhard Schröder an der Macht ist. Macht wächst an sich selbst. Wer gestalten kann, hat größere Aussicht auf Popularität als diejenigen, die nur kritisieren dürfen – jedenfalls so lange, wie derart schwere handwerkliche Fehler vermieden werden, wie sie sich die rot-grüne Bundesregierung in der ersten Zeit nach ihrem Amtsantritt geleistet hat. Vielleicht hat Schäuble auch deshalb so ungeschickt agiert, weil er intelligent genug ist, dieses grundlegende Problem zu erkennen. Er war ein hilfloser Krisenmanager. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass er ein schlechterer Kanzler gewesen wäre als Gerhard Schröder.