Ein Leben ohne Kohl, ein Leben ohne Politik

Wolfgang Schäubles politische Karriere war stets durch seine Abhängigkeit von Helmut Kohl geprägt. Mit seinem Übervater hat Schäuble im Verlauf der CDU-Krise gebrochen. Trotzdem ist er jetzt gescheitert – an sich selbst. Doch am Ende wirkte der Parteichef seltsam befreit ■ Von Jens König

Das Attentat auf Wolfgang Schäuble am 12. Oktober 1990 hat ihn, wie er selbst bekennt, gelassener gemacht. „Von heute auf morgen kann alles anders kommen, als man es sich je vorgestellt hat“, sagte Schäuble einmal. Viele haben ihm diese lässige Haltung nie abgekauft, zu kühl, zu verbittert, zu hartherzig erschien ihnen der Mann, den das Attentat an den Rollstuhl gefesselt hat. So war für den Menschen Wolfgang Schäuble seine demonstrativ zur Schau gestellte Gelassenheit immer auch eine Art Selbstversicherung, dass er den Politiker in sich besiegen kann, dass er die Politik nicht braucht, um nach dem traumatischen Abend vor zehn Jahren in der Gaststätte „Bruder“ im badischen Oppenau weiterleben zu können.

Jetzt wird Wolfgang Schäuble herausfinden können, ob er recht hatte, ob es für ihn auch ein Leben ohne Politik gibt. Von heute auf morgen kam alles anders, als er es sich je vorgestellt hat.

Vorgestern, am „schwarzen Dienstag“, machte sich in der Partei Verzweiflung breit. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hatte von der CDU die Rückzahlung von 41 Millionen Mark verlangt, dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden fiel jedoch nichts Besseres ein, als sich in irgendwelchen Hinterzimmern mit Brigitte Baumeister immer noch wegen der 100.000-Mark-Spende zu streiten. Die Fraktion verlor die Geduld, sie meuterte gegen ihren Chef. Plötzlich war allen in der Partei klar, dass es mit ihm an der Spitze nicht mehr weitergeht. Schäuble kapitulierte. Er ist an der Aufgabe, die CDU von ihrem Übervater Helmut Kohl zu befreien, die Spendenaffäre aufzuklären und die Partei zu erneuern, gescheitert.

Es ist nicht so, dass das politische Ende von Wolfgang Schäuble überraschend kam. Dieses Ende war es allerdings schon. Das politische Schicksal des heute 57-Jährigen hatte in den vergangenen Jahren Züge angenommen, die an eine klassische Tragödie erinnern. Wolfgang Schäuble ist von seinem Ziehvater Helmut Kohl über Jahre gefördert, dann geschätzt, später hingehalten und schließlich bekämpft worden. Selbst über diesen Kampf waren die beiden so eng miteinander verbunden, dass sich am Ende scheinbar keiner mehr vom anderen losmachen konnte. Beide drohten gemeinsam unterzugehen.

In dieser Tragödie wurde gestern der Schlussakt gespielt, aber ein „falscher“. Schäuble scheiterte nicht in erster Linie an seiner Vergangenheit, nicht an seiner symbiotischen Beziehung zu Helmut Kohl – sondern an sich selbst. Er sollte die Probleme der CDU lösen, am Ende jedoch wurde er selber eins. In den letzten Tagen schien er alle Kraft verloren zu haben, sich gegen die Lähmung seiner Partei zur Wehr setzen zu können. Die Krise war Wolfgang Schäuble stets einen Schritt voraus.

Mit ihm scheitert einer der intelligentesten und professionellsten Politiker der Bundesrepublik. Er war einer, der das Zeug zum Bundeskanzler hatte. Die Kanzlerschaft hätte er sich, wenn es denn in der Politik darum ginge, auch verdient – durch Hingabe und Askese. Die Art, wie Schäuble nach seinem persönlichen Schicksalsschlag Politik betrieb, haben viele bewundert (und einige auch gefürchtet). Selbst als die CDU-Krise ihn schon zermürbt hatte und er vor vier Wochen als Parteivorsitzender zurücktreten wollte, hat er sich noch einmal in die Pflicht nehmen lassen. Seinen Job hat er nur noch als Last empfunden, aber er war überzeugt davon, dass er seiner Partei am besten dient, wenn er diese Last weiter trägt. Seinen Rücktritt wird er als eine Befreiung empfinden – aber eben auch als letzten Dienst an der Partei.

Mehr konnte Wolfgang Schäuble wirklich nicht mehr tun. Die CDU-Krise verstand er schon seit Wochen nicht mehr. Er unterschätzte ihr Tempo, ihr Eigenleben, ihre Dynamik. Als die Öffentlichkeit drängend nach Aufklärung schrie, handelte der Parteichef wie ein Jurist. Er sezierte den Spendenskandal mit buchhalterischer Akkuratesse, um ihm die Emotionalität zu nehmen, er spielte auf Zeit, er taktierte, er belog den Bundestag, und zum Schluss führte er mit seiner einstigen Vertrauten Brigitte Baumeister einen absurden Streit darüber, wer vom Waffenhändler Schreiber eine 100.000-Mark-Spende erhalten habe. Schäubles Krisenmanagement war so jämmerlich, dass man meinte, sein Ruf als großer Stratege könne nur aus dem vorigen Jahrhundert stammen.

Viele, vor allem seine Gegner, haben für sein Verhalten eine Erklärung parat: Schäuble sei die bösen Geister der Vergangenheit nicht losgeworden, er sei im Umgang mit der Krise und mit Helmut Kohl nie wirklich frei gewesen. Das stimmt nur bedingt. Denn ein paar Wochen vor seinem eigenen politischen Schicksalsschlag hat Schäuble doch noch über Kohl triumphiert.

Am Morgen des 18. Januar war er in Berlin im Büro des ehemaligen Bundeskanzlers erschienen. Die Tatsache, dass Schäuble bei seinem Ziehvater vorsprach und ihn nicht etwa zu sich ins Büro gerufen hatte, entsprach immer noch der innerparteilichen Etikette, aber eben auch dem Verhältnis der beiden. Vierzig Minuten sprachen sie miteinander. Angefleht habe er Kohl, doch bitte die Namen der anonymen Spender zu nennen, berichtete Schäuble hinterher. Andere erzählten, die beiden hätten sich angebrüllt. Kohl, den damals die Realität schon nicht mehr erreichte, blieb stur. Nein, antwortete er kühl, er werde die Namen nicht nennen. Dann trete er als Parteichef zurück, drohte Schäuble. Aber auch das konnte den starrsinnigen Alten nicht umstimmen, im Gegenteil: Kohl sah in dem Moment vielleicht die letzte Bestätigung dafür, dass immer noch er der wahre Parteichef ist. Er hätte nichts gegen Schäubles Rücktritt einzuwenden gehabt.

In diesen vierzig Minuten in Kohls Büro wurde das Ende einer politischen Freundschaft besiegelt. 1968, während der Studentenunruhen, hat Wolfgang Schäuble Helmut Kohl auf einer Veranstaltung in Freiburg zum erstenmal gesehen. Der zwölf Jahre Jüngere erschien Kohl schon frühzeitig als jemand, der ihm von seiner Herkunft und seiner Veranlagung her ähnlich war. Schäuble kam, wie Kohl, aus kleinen Verhältnissen. Er hatte, wie Kohl, eine große Klappe, war sportlich und sehr ehrgeizig. Er wurde, wie Kohl, Klassensprecher und stieß mit 19 Jahren zur Jungen Union. Schon damals bewunderte Schäuble Helmut Kohl, den jungen Ministerpräsidenten in Mainz. Fortan stellte er sich bedingungslos in den Dienst des Pfälzers. Schäuble wurde, als Kohl in Bonn zum Kanzler aufgestiegen war, Parlamentarischer Geschäftsführer, dann Kanzleramtsminister, später Innenminister und Fraktionschef.

In der Beziehung der beiden blieb, bei aller selbst bekundeten Freundschaft, dennoch immer ein Rest an Distanz. Sie hing wahrscheinlich mit dem Respekt zusammen, den beide über Jahre voreinander hatten. Der Kanzler schätzte die intellektuellen Fähigkeiten seines Ziehsohnes. Schäuble wiederum respektierte, ja fürchtete stets Kohls unbändigen Machtwillen und dessen politischen Instinkt. Weil Schäuble wusste, dass er ohne den Willen seines Gönners nichts werden konnte, hatte seine Loyalität immer auch etwas Berechnendes.

An dem Morgen in Kohls Büro zählten diese 30 Jahre nichts mehr. Die beiden Gefährten beendeten ihre Beziehung im Streit. „Kohl hat immer weniger begriffen, dass es außer ihm noch andere Menschen auf der Welt gibt“, sagte Schäuble hinterher. Als er sich von Kohl trennte, war er fest entschlossen, als Parteichef zurückzutreten. Allen voran seine Generalsekretärin Angela Merkel stimmte ihn um. Stunden später an diesem legendären Tag stellte sich das Parteipräsidium geschlossen hinter Schäuble und beschloss die innere Trennung von Kohl.

In den Tagen danach befiel Schäuble eine seltsame Leichtigkeit. Als könne ihm die ganze Affäre nichts mehr antun, trotz aller ungeklärten Fragen, trotz aller eigenen Verstrickungen. Als sei ihm nur wichtig, dass er seine Beziehung zu Helmut Kohl ein für allemal geklärt habe. „Ich fühle mich frei“, bekannte er damals. So wie Wolfgang Schäuble gestern aussah, hätte er den Satz auch in seiner Rücktrittserklärung fallen lassen können. Man hätte ihm vermutlich sogar geglaubt.