Andrejs erste Idee vom Reichwerden

Man kauft bei Aldi im Wedding drei Rucksäcke voll Hansa-Bier und trägt sie zum Bahnhof Lichtenberg. Dort stellt man sich dann in die Schalterhalle und verkauft das Bier an die Zeugen Jehovas. Mit etwas Gewinn. Ein kapitalistisches Lehrstück ■ von Wladimir Kaminer

Mein alter Bekannter Andrej, Inhaber der wahrscheinlich einzigen russischen Lebensmittel-Ladenkette in Berlin – „Kasatschok“ – will sein gut gehendes Geschäft aufgeben und zusammen mit seiner Familie nach Amerika auswandern. Die Gründe für diese Entscheidung hält er geheim. Vielleicht kommt er mit dem deutschen Steuerrecht nicht klar oder er kann seine imperialistischen Ambitionen in Europa nicht weiter verwirklichen. In der letzten Zeit hatte sich Andrej zu einem skrupellosen Geschäftsmann entwickelt. Dabei haben wir vor neun Jahren zusammen – ganz harmlos – damit angefangen, als wir von Moskau nach Berlin zogen. Unsere erste Geschäftsstelle befand sich vor der Tür der Eingangshalle des Bahnhofs Lichtenberg. Andrej, Mischa und ich bewohnten damals eine Einzimmerwohnung in dem Vorzeigeausländerheim von Marzahn. Mischa und ich hatten noch keine festen Lebensziele und spielten gern abends in der Küche Gitarre. Andrej spielte zwar auch ganz gut Gitarre, hatte aber ein Ziel vor Augen: Er wollte unbedingt Millionär werden. Immerhin war er ein ganzes Stück älter als wir, schon damals 31.

Seine erste Idee zum Reichwerden wurde von uns mit Begeisterung aufgenommen. Damals bekamen wir nur 180 Mark Taschengeld im Monat von der deutschen Regierung. Andrej versprach uns das Dreifache. Wir legten unser Taschengeld zusammen und fuhren um sieben Uhr früh in den Wedding. Dort kauften wir bei Aldi drei Rücksäcke Hansa-Bier und Dosen-Cola ein und schleppten das Zeug zum Bahnhof Lichtenberg. Damals hatte der Kapitalismus diese Gegend noch nicht voll erreicht – wir waren praktisch die Vorboten. Die Büchsen verkauften wir für 1,20 Mark. Neben uns standen noch andere Vorboten: eine ostdeutsche Familie, die mit Ei und Schinken belegte Brötchen verkaufte. Sie war sehr stolz auf ihre Handarbeit und konnte uns nicht leiden – wir waren für sie bloß Abzocker, die hinter leicht verdientem Geld her waren. Die Familie wusste, dass eine Dose Hansa-Bier bei Aldi 43 Pfennig kostete und wir das Dreifache verlangten, Andrej sogar das Vierfache, während sie mit Schweiß und Fleiß ihre Brötchen zurechtgemacht hatten.

Merkwürdigerweise wurden ausgerechnet diese ehrlichen Handarbeiter von einer plötzlich auftauchenden Kontrolle des Gesundheitsamtes verjagt. Die Belegtebrötchenfamilie hatte zu schmutzige Hände, außerdem war ihr Gesundheitspass abgelaufen und die Ware war falsch eingewickelt. Wir taten so, als ob wir ganz gewöhnliche Bahnhofssäufer wären – und fielen der Kontrolle dadurch nicht auf. Sie nahmen uns als Händler gar nicht wahr.

Das Geschäft lief inzwischen gut: Wir hatten viele Stammkunden – die ewig durstigen Zeugen Jehovas und die gut gebügelten Scientologen, die alle Züge aus Osteuropa empfingen, um die noch verwirrten Ausländer sofort zu ihrem Glauben zu bekehren. Dabei nutzten sie den Überraschungseffekt aus, was oft auch gut funktionierte. Viele Reisende, die zum ersten Mal ans Ufer des Kapitalismus gelangt waren, dachten, dass diese Träger der Geistigkeit einfach dazugehörten. Die verwirrten Ausländer waren auch unsere Kunden, ebenso eine Menge Zigeuner und Afrikaner, die ebenfalls ihre Geschäfte am Bahnhof abwickelten. Und dann nicht zu vergessen: die japanischen Touristen ... Mischa und ich waren zu ungeduldig: Mehr als eine Stunde wollten wir dem Geschäft nicht opfern. So machten wir zum Beispiel gerne Sonderangebote oder tranken zur Not auch die restliche Ware selbst aus. Erleichtert fuhren wir dann nach Marzahn zurück. Deswegen hatten wir oft statt Geld nur Bauchschmerzen und einen leichten Kater als Gewinn.

Ganz anders – Andrej. Er trank nie sein Zeug selbst und konnte wegen zwei unverkaufter Dosen die halbe Nacht lang auf dem Bahnhof stehen. Wenn das Geschäft nicht richtig lief, erhöhte er sogar die Preise von 1,80 Mark auf 2,50 Mark. Andrej hatte seine eigene Verkaufsstrategie. Ständig experimentierte er mit dem Sortiment. Mal kaufte er bei Aldi noch zusätzlich ein Kilo Kaugummi, mal zwei Dutzend Duplo-Riegel und legte sie bescheiden auf den Boden neben das Bier – für 50 Pfennig das Stück. Er sparte, ernährte sich grundsätzlich von Müsli und führte ein Ein- und Ausgabenbuch. Bald hatte er schon das Geld für seinen ersten Fernseher zusammen, den er dann eigenhändig im Zug nach Polen auf einen Markt brachte. Mit 100 Mark Gewinn kam er zurück. Auf der nächsten Reise nahm er außerdem noch eine Stereoanlage mit.

Nach einem Jahr spielten wir noch immer Gitarre in der Küche, während Andrej bereits seinen ersten Lebensmittelladen in der Dimitroffstraße eröffnete und einen Volkswagen besaß. Er ging richtig wissenschaftlich an die Sache ran und machte in der Umgebung seines Ladens eine Umfrage um festzustellen, was er in erster Linie anbieten sollte. Laut dieser Umfrage waren es dann vor allem drei Artikel: Jägermeister, Berliner Pilsner und Bild am Sonntag. Er wollte aber mehr und füllte den Laden schließlich mit den verschiedensten Sachen – wie Glühbirnen und Nähzeug beispielsweise. Auch russische Lebensmittel nahm er ins Angebot. Wenig später heiratete er eine Frau aus Sankt Petersburg, die ihm einen Sohn gebar – einen Jungen, den er Mark nannte. Uns erzählte Andrej, dass er von einer großen Familie träume und sich viele Kinder wünsche. Mischa meinte dazu, dass er den zweiten Sohn wahrscheinlich Pfennig nennen werde, aber wie es jetzt aussieht, wird Andrejs nächster Junge wohl eher Dollar heißen.