Gary Cooper lebt nicht mehr

Arme Berlinale. Mit dem Potsdamer Platz hat sich das Dienstleistungskapital ein Denkmal gesetzt. Und die „Berlinjale“ (Johannes Rau) ist bloß dazu da, es mit Leben zu füllen ■ Von Helmut Höge

Statt den Stars vor den Hotels aufzulauern, geht der Berliner sowieso lieber auf Erotik-Messen. Denn dort darf man die Stars wirklich anfassen

„Mit dem Krankenhaus Hessenklinik hat sich die bürgerliche Klasse ein Denkmal gesetzt“, schrieb 1975 die Gießener Zeitung des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland). Während wir Hyperaktiven heute eher vom Proletariat leben, wollten die mittelhessischen Genossen damals fürs Proletariat strebend sich bemühn. Dieser kleine Unterschied hatte anfänglich auch auf dem Berliner Filmfestival Geltung. So entstand z.B. aus dem Konflikt zwischen einer linken (studentenbewegten) und einer rechten (amerikanisch-offiziellen) Einschätzung des Vietnamkrieges das linke Berlinale-Parallel „Forum des jungen Films“. Als der damals wie heute amtierende Forum-Chef Ulrich Gregor mit der ersten Budget-Zusage seiner Frau Erika erzählte, dass sie 300.000 Mark bekämen, meinte sie entsetzt: „Das ist zu viel, gib es zurück!“ Heute kommt das Forum nicht mal mehr mit einer Million aus. Auch für die Besucher ist alles teurer geworden. Ein winziger Wodka kostet in der Billy-Wilder-Bar am Potsdamer Platz zehn Mark. Zunächst hat man nach der Wende dieses in West (debis) und Ost (Sony) geteilte Gebiet als Arbeitsplatz wahrgenommen: Es waren zumeist polnische Kontingent-Arbeiter, die für 3,50 Mark die Stunde die Service-Center im Akkord hochzogen. Aufgrund des dabei angewandten Subsubsub-Unternehmersystems sprach man zum einen – wie etwa der debis-Sicherheitsingenieur – von „Sklavenarbeit“. Zum anderen von „Pfusch“. So hieß es sogar, dass viele der dort ehemals Beschäftigten sich nicht in eines der rund 30 Kinos auf dem Platz trauen – aus Angst, dass ihnen die Decke auf den Kopf fällt.

Sodann wurde der annähernd fertige Potsdamer Platz als Freizeit- und Konsumzentrum attraktiv: zumeist bei Touristen und Jugendlichen. Erstere kamen aus Westdeutschland, bei letzteren handelte es sich oft um „ausländische Berliner“, die das „dreieckige Hochhausareal“ (Spiegel) an ihre alte Heimat (Tokio, Djakarta oder Bochum) erinnerte und für die dieser neue „Erlebnisraum“ im Gegensatz zu anderen Hang-Outs noch nicht von Kiez-Wächtern dominiert – also „neutral“ – war. Jetzt ist das Terrain wieder Arbeitsplatz geworden.

Die Berlinale ist kein Publikumsfestival. Die Mehrzahl der Besucher sind Journalisten und Filmschaffende bzw. solche, die dieses oder jenes werden wollen. Zudem ist die Veranstaltung selbst ein großer Arbeitgeber, sogar die Anzahl der Sicherheitskräfte wurde nahezu verdoppelt.

Mit der Verschlankung der Verwaltungen und dem „Zurückfahren“ von Kulturetats werden „gesponserte Events“ immer wichtiger. Es gibt inzwischen keinen Tag mehr, an dem nicht irgendwo ein Filmfestival stattfindet – und jährlich gibt es neue. Hinzu kommen immer mehr Fernsehanstalten, denen bereits die meisten Filmproduktionen zu verdanken sind.

Auch der ehemalige Studio-Babelsberg-Chef Schlöndorff produzierte seine Ost-West-Elegie über die Topterroristin Inge Viett fürs Fernsehen. Inge Viett fand an diesem Film im alles „falsch“ und klagt jetzt eine Art Ausfallhonorar ein. Auf einer Pressekonferenz der Berlinale äußerten sich die Hauptdarsteller anerkennend über ihr anhaltendes Gerechtigkeitsstreben. Das hatte was durchaus Politisches! Dennoch lief der politischste Film außerhalb der Berlinale.

Das Filmfestival wird von immer mehr Subsub-Kulturunternehmen flankiert. Zu nennen wären ein Neue-Medien-Festival, ein Festival des Afrikanischen Films im Haus der Kulturen der Welt, ein Kurzfilmfestival und eine Filmplakat-Ausstellung der IG Medien. Außerdem gibt es eine wundersame Geldpreisvermehrung.

Ohne Geldpreise, aber dafür umso teurer in der Selbstdarstellung ist das von Philip Morris ausgerichtete Freedom-Festival. Dort lief der wohl aufregendste Film: „Khrustalyov. My Car“ von Alexei Guerman. Zehn Jahre brauchte der russische Regisseur für diesen seinen Lebensabschlussfilm –Spiegel im Stile des „sozialistisch-magischen Realismus“, wie der Zigarettenkonzern meint.

Eine ähnlich schaurig-schöne Geschichte weiß der alte Berlinale-Pressechef Hans Borgelt zu erzählen: 1953 brach während des Filmfestivals in Ostberlin der Bauarbeiteraufstand aus – und dann verschwand auch noch der Berlinale-Star Gary Cooper. Er war nach Ostberlin gefahren, um gepflegt im Adlon zu frühstücken, nicht wissend, dass das Hotel im Krieg zerstört wurde. Zuletzt hatten dort die Marionettenregierungen der Nazis für die eroberte Sowjetunion logiert. Cooper geriet stattdessen mitten in den Aufstand des 17.Juni. Totenblass kehrte „der Westernheld“ von dort zurück, nach Westberlin, wo er auf dem Kurfürstendamm erneut „in einen Aufruhr geriet – diesmal von seinen Fans“. Jetzt gibt es das Adlon wieder, aber Cooper lebt nicht mehr. Dafür kam heuer Horst „Hotte“ Buchholz, der auch keine Miene verzog: Niemand nahm ihn wahr, weil alle ihn für das Lookalike einer schlechten Doppelgängeragentur hielten.

Statt den Stars vor den Hotels aufzulauern, geht der Berliner sowieso lieber auf Erotik-Messen, die inzwischen monatlich stattfinden. Dort darf man die Stars wirklich anfassen – sogar an ihren intimsten Stellen. Derweil hat sich der Pornofilm zum größten Dokumentarfilm-Genre überhaupt entwickelt, auch dafür werden in der Hauptstadt alljährlich Preise vergeben.

Zwar bekam der Forum-Chef Ulrich Gregor 1976 einmal eine Anzeige wegen Verbreitung von Pornografie, weil er Oshimas „Im Reich der Sinne“ gezeigt hatte, aber dass sich in Zukunft beide Messen – wie etwa in Cannes – vermischen, ist nicht zu erwarten. Weiterhin gilt: Das, was die Filme im Wettbewerb (wie der US-Film „Titanic“) ausblenden, steht auf der Pornomesse im Zentrum des filmischen Schaffens (im schwedischen Beitrag „Heiße Eisberge“ z.B. ) – und umgekehrt.

Mit der Verschlankung der Verwaltungen und dem Zurückfahrenvon Kulturetats werden gesponserte Events immer wichtiger

Die A-Festivals von Venedig und Cannes nutzen die altbewährten und viel besungenen Denkmäler des italienischen Handels- bzw. des französischen Kolonialkapitals als Kulisse. In der Frontstadt Berlin musste immer das Politische dafür herhalten – erst recht nach dem Mauerbau 1961, als laut Wolfgang Neuss „die schlimmsten Leute die Stadt verließen“ . Stattdessen kamen eher arme Studenten und Arbeiter.

Nun geht es hier aber wieder andersrum ab. Mit dem Potsdamer Platz hat sich das neue Dienstleistungskapital ein Denkmal gesetzt. Und die Berlinale ist (bloß) dazu da, es mit Funktion – „Leben“ – zu füllen. Dafür hat man die Straßen und Kneipen nach Filmgrößen benannt, und an allen Ecken und Kanten flimmert oder beamt es. Auch die Lichtarchitektur nach oben wie nach unten – in den so genannten Minusgeschossen sowie in den Bars – ist auf Multimedia- und High-Tech-Philosophy getrimmt.

Niemand kann aber ständig derart unter Dampf stehen (kommunizieren), auch das innigste Handy muss mal ausgeschaltet werden. Sinnigerweise zog es die „Macher“ – Manager und Architekten des Potsdamer Platzes – als erstes in die Villen am Stadtrand, mit Kamin und Zinntellern an den Wänden. Auch die Benutzer treibt es nach Feierabend sofort in ihre alten Berlinale-Kneipen zurück. Ab 23.30 Uhr ist der kalt-zugige Platz wie ausgestorben, und in den „Diners“ werden die Stühle hochgestellt. Was die Lokalpresse – von taz bis B.Z. – natürlich nicht daran hindert, trotzdem zu jubeln: „Bürger der Welt – schaut auf dieses supercoole Ereignis!“ Diesmal werden die ausländischen Gäste jedoch politisch enttäuscht. Es ist alles bloß „fun“, nölt sogar der Tagesspiegel.