„Aaarrrggh!“

Nicht jeder, der im Filmgeschäft arbeitet, kann von sich behaupten, er lebe in einer bunten Glitzerwelt. So manch einer zählt sich zur Statisterie, zum – notwendigen – Fußvolk, ohne das die Filmbranche gar nicht existieren könnte: Die Komparsen, Garderobieren oder Kabelträger. Oder die Synchronsprecher von ausländischen Billigfilmen. Auch sie sorgen dafür, dass sich das Publikum prächtig unterhält. Eine Erzählung aus dem Bauch der C-Film-Industrie von anacrion

Mein Freund Joachim starb diese Woche. Röchelnd, endlos, mit Schmerzen in der Brust und zerschmetterten Knochen. Seine Fühler sind ihm ausgerissen worden, und ich musste mit anhören, wie seine Rippen wie trockene Zweige im Unterholz brachen. Es ist schon das zweite Mal in dieser Woche, und Joachim ist sehr unglücklich. Schwarzes, klebriges, zähes Blut tritt aus den offenen Wunden, und wieder ist ein Bagromkäfer, ein Soldat der Schattenwelt, dem gerechten Verderben anheim gefallen.

Mein Freund spricht für japanische Manga-Comic-Filme Schurken und Bösewichte als Synchronstimme. Es macht ihm gar keinen Spaß, in jedem Film wird er umgebracht, und wer erlebt schon gerne zweimal in der Woche seinen eigenen Tod? Ich bin dafür zum Fan von Manga-Comics avanciert, so etwas Absurdes habe ich noch nicht gesehen, und ich freue mich bereits auf die nächste Staffel. Zudem haben sie begonnen, Actionfilme der Achtzigerjahre aus Hongkong zu synchronisieren. Ich sehe mich schon abends oder besser nachts vor dem Video sitzen, um mir endlose Schlägereien mit Furcht einflößenden Schreien wie „Aiiii“ oder „HuaaaahFeiWong“ anzuschauen oder Karatekämpfe auf Leben und Tod, bei denen Betonwände wie Knäckebrot eingeschlagen werden, und aberwitzige Autoverfolgungsjagden um fünf Häuserblocks in Hongkong.

Mein Freund bekommt leider keine großen Rollen, seine Stimme eignet sich für Grunzer, Aaarrrgghs und besonders für das Sterberöcheln. Letzte Woche wurde meinem Freund Joachim in einem Comicfilm eine Dreißig-Zentimeter-Klinge langsam in die Lunge gestoßen. Die Sterbeszene dauerte mit Gurgeln, Röcheln, Aufbäumen und finalem Seufzer zwei Minuten. Der Regisseur war begeistert!

Manchmal, wenn ich melancholisch bin, lese ich mir die Manuskripte mit den Uurgs, ORRRGs und hCH-hCH-hCHs oder einem orgiastischem Jaaaahh laut beim Frühstück vor. Oder aber ich verständige mich mit meinem Mitbewohner und besten Freund Hajo auf diese Weise darüber, dass der Kaffee alle ist, dass die Butter zur Neige geht oder dass die Marmelade sich in den Honig verguckt hat und sie auf dem Baguette ein Liebesmahl feiern wollen.

Einen besonderen Charme bekommen die Filme durch den Umstand, dass es ausgewiesene Billigproduktionen sind, so stehen zum Beispiel Titel, Autor, Besetzungslisten in originaler Schrift im Vor- und Abspann, und die Songs bleiben natürlich auch auf Japanisch oder entsprechend Hongkongchinesisch. Es sind die einzigen Videos, bei denen ich mir sogar den Abspann dreimal anschaue. Gestern rief ich bei der Vertriebsfirma in einem kleinen rheinländischen Dorf an und bat, dass mir der Gesamtkatalog zugeschickt werde.

Mein Freund Joachim ist ein schmächtiger, freundlicher Mann, der schüchtern reagiert, wenn der Postbote unerwartet klingelt. Wenn wir abends bei ein paar kühlen Bier mit anderen Freunden in meiner Küche beisammen sitzen und nach einer Diskussion über die zivilreligiösen Aspekte der Ikonographik des Nationalsozialismus uns den wirklichen wichtigen Dingen wie Sex, Frauen, Autos und Fußball zuwenden, wird er auffällig still. Da kann er nicht aus eigener Erfahrung mitreden, und deshalb zieht er es vor zu schweigen. Gerade sein Kontakt zu Frauen ist von einer erschreckend harmlosen Natur; er kann ein verständiger, guter Zuhörer sein, aber es fehlt ihm an Engagement und Verve, ein gutes Gespräch im Bett enden zu lassen.

Er ist eben ein Intellektueller mit einer bestechenden Allgemeinbildung, und wenn er halb zwei Uhr nachts beginnt, die schlechtesten Gedichte Goethes zu rezitieren, wenden sich auch die letzten Damen verzweifelt und enttäuscht zum Gehen. Schade, dabei hätte er grundsätzlich schon Interesse, er möchte nur noch eben seine Gedanken zu Ende bringen. Eine Frau hatte ihm einmal alle Zeit gegeben, die er brauchte, und er konnte seine Ideen und sein Wissen ausspinnen. Nach drei Tagen war er so weit, sich ihr auch körperlich zu nähern, aber dann musste sie gehen, weil sie inzwischen unaufschiebbaren Hunger hatte. Wie gesagt schade, es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, eigene Erfahrungen zu machen.

Vor drei Wochen kam er von einem Job zurück und wollte nicht mit der Sprache rausrücken, welche Rolle er diesmal zu sprechen bekommen hatte. Da ich ein zäher und neugieriger Mensch sein kann, erzählte er mir schließlich, dass er einen fiesen, brutalen Zuhälter in einem S/M-Manga sein Organ geliehen hätte. „Einzelheiten, ich will Einzelheiten hören“, bettelte ich, das interessiere mich brennend, welche Praktiken sich die Japaner hätten einfallen lassen. Niedergeschlagen vermerkte er als erstes, dass er am Ende wieder einmal sterbe. „Ja, ja, das weiß ich – oder besser: Ich kann es mir denken.“ Mit dieser Stimme – und mit dieser Einstellung, dachte ich mir im Stillen – muss man einfach sterben.

Die Logik und die Handlung von Mangas verschließen sich einem europäischen Verständnis sehr hartnäckig, und auch bei jenen zwei Kassetten, die ich zu Hause habe und die ich bereits viermal gesehen habe, würde es mir sehr schwer fallen, den Inhalt einem nicht vorgebildeten Gesprächspartner einigermaßen zugänglich zu machen. Und das sind Kinderfilme ab zwölf Jahren! Auf der Schutzhülle versuchen die deutschen Verleiher, die komplizierte Handlung in der zentralen Aussage zusammenzufassen: Frauen sind unberechenbar. Wie ich die Filme verstanden habe, kommt das ganz gut hin. Manche Erfahrungen scheinen interkulturell konstant zu sein. Die Szenen, in denen gefickt werde und S/M-Spiele vorkämen, würden nach dem üblichen Schema ablaufen, erklärte mir Joachim. „Was bitte ist das Übliche?“ „Na ja, das Übliche halt, äh.“ – Gut, ich sah ein, dass ich hier nicht mit einer kompetenten und schillernden Beschreibung von seiner Seite rechnen konnte. Die Handlung im Groben klang dann aber so, als hätten sich der Zauberwald und das Biz aus Chatcity zu einem gemeinsamen Projekt getroffen: Märchen- und Feenzauber, Lesbensex und hartes, unbeschönigtes Ficken. Knuddeln und Zunge in den Hals, bis sie zwischen den Knien wieder herauskommt. Es gebe Schlösser, Schwerter, Prinzen und Prinzessinnen, romantische und keusche Liebe sowie Lederpeitschen, Folterkeller und Masken in einem Szenario.

Das hörte sich ziemlich bizarr an. Die Geschichte ende mit seinem Tod: Er sei ein ruchloser Raubritter und fieser Zuhälter, der seine androide Nutte brutal drangsaliere, aber zuletzt von zwei Zofen mittels einer Altarkerze anal gepfählt würde, und schließlich sauge ihm eine wunderschöne böse Hexenprinzessin am Schwanz nicht nur das Sperma, sondern auch das Leben aus und verwandle ihn in eine kleine schwarze Spinne. Den Film muss ich haben!

So genau bekomme er die Szenen nicht immer mit, weil er auf sein Manuskript schaue und mit dem anderen Auge das Sekundenzählwerk über dem Bildschirm beobachten müsse, damit seine Einsätze präzise kommen. Er habe in dem S/M-Film nicht stöhnen oder grunzen müssen, er habe diesmal nur Text (so was wie „du miese Fotze“) synchronisiert. Die erotische Geräuschkulisse, zum Beispiel die Quiekser, sei im japanischen Original verblieben. Muss ich das kommentieren? Ich beginne es zu lieben, wenn diese Verleih- und Vertriebsfirmen ein zu kleines Budget haben, und freue mich auf Nächte, in denen ich vor Lachen über den Teppich rollen werde.

Gestern bekam ich das aktuellste Video von ihm geliehen, seine Stimme gehörte einem großen, gut auseehenden Prinzen von El Hazard in der sechsten Dimension, der die schöne Prinzessin Fujisawa heiraten möchte. Das ist nicht mein Freund Joachim! Nein, das kann nicht sein. Ich hoffe inständig, es stellt sich in der nächsten Folge heraus, dass er in Wahrheit einer der Fürsten der Finsternis ist und einen furchtbaren Tod sterben muss. Das ist viel komischer.

anacrion, 35, lebt in Erlangen. Seine Kurzgeschichten veröffentlicht er bei „Radio Z“ und im Internet. „Aaarrrggh!“ gelangte über eine Wette der taz-Abo-Aktion (sog. Titten-taz) ins taz.mag