Das Glück, das in der Ruhe liegt

Wenn das Bedürfnis nach dem Geschichtenerzählen erfolgreich verloren geht: Nuri B. Ceylans „Bedrängnis im Mai“ (Wettbewerb)

So viel Autobiografie wie in „Mayis sikintisi – Clouds of May“ war selten. Nuri Bilge Ceylan hat einen Film gedreht über einen Filmregisseur namens Muzaffer, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, um dort einen Film über seine Eltern zu drehen, die sich in diesem Film im Film selbst spielen sollen. Die Filmeltern werden wiederum von Ceylans eigenen Eltern gespielt und haben im Film auch ihre Namen behalten.

Herausgekommen ist allerdings nicht das so choatische wie wichtig tuende Patchwork aus hektischer Handkamera und grobkörnigen Videosequenzen, das meist das Ergebnis solcher Experimente ist. Im Gegenteil: Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, dieser Film käme aus Japan und liefe im Forum. Eine fast buddhistische Ruhe durchzieht jede Einstellung. Nachdem man sich daran gewöhnt hat, dass jeder Schnitt um Sekunden zu spät kommt, wenn die Sehgewohnheiten erfolgreich aufgebrochen sind, sinkt man in eine ebenso beiläufige wie scheinbar endgültige Stille.

Tatsächlich wird Beiläufigkeit hier fast schon zu Belanglosigkeit. Ceylan verzichtet nicht nur auf so etwas wie eine Geschichte, sondern der Film scheint zusehends sein Bedürfnis nach Story-Telling überhaupt zu verlieren. Selbst wenn etwas geschieht, wird es so nebenbei inszeniert, als sei es nie geschehen. Wenn die beiden Alten nebeneinander auf dem Sofa sitzen und sich selbst auf Video anschauen, spürt man ganz deutlich das liebevoll vertraute Glück, das zwischen ihnen herrscht. Fraglich, ob echte Schauspieler so etwas zustande gebracht hätten. „Manchmal“, erzählte Ceylan nach der gestrigen Premiere, „muss man seine Schauspieler auch hereinlegen und sie heimlich filmen.“ Auch seinen Filmregisseur im Film lässt Ceylan immer wieder verschämt die Eltern und Freunde aufnehmen. Den Vater lässt er über seinen Sohn sagen: „Er macht immer nur Filme, die kein Geld einspielen.“

Es gibt Nebenstränge oder besser: Nebenzustände, die bebildert werden. Da ist Saffet, der von einem Leben in der großen Stadt träumt, von einer Karriere beim Film. Da ist der achtjährige Neffe Ali, der eben immer dabei ist. Keine der Figuren spricht über ihre Gefühle, kein geschwätziger Off-Kommentar erklärt, was man nicht sieht, weil ein Regisseur unfähig war, ein Bild dafür zu finden. Ceylan aber, der als Fotograf angefangen hat, tut, was Kino tun muss: Er lässt die Bilder sprechen. Er verlässt sich fast ausschließlich auf sie, und schaltet das Vehikel Sprache nahezu aus. Wenn Saffet im Morgengrauen wie teilnahmslos in die Ferne blickt, während im unscharfen Hintergrund Muzaffer an seiner Kamera herumwerkelt, sagt das mehr über Sehnsucht, Verlorenheit und Unsicherheit, als jemand wie Saffet jemals in Worte fassen könnte. „Ich mag ein Kino ohne Tricks“, sagt Ceylan, „ein Kino, das rein ist, das schwerfällig ist.“

Weil so ein Bild immer komplexer ist als ein Satz, ist schwer einzugrenzen, was Ceylan mit seinem zweiten Spielfilm überhaupt sagen will. Wahrscheinlich will er nur zeigen: die Verbundenheit mit der Landschaft, die tiefe Liebe seiner Eltern zueinander, das Glück, das in der Ruhe liegt. Er selbst sprach viel davon, wie schön es ist, zurück ins Heimatdorf zu kommen, jeden Baum und jeden Menschen zu kennen, kurz: nach Hause zu kommen. Wenn Ceylan darüber einen Film drehen wollte, dann ist es ihm gelungen. Nachdem schon sein Erstling „Kasaba“ im Dorf seiner Eltern entstand, soll sein nächster Film endlich in Istanbul spielen. Und seine Eltern werden nicht vorkommen. „Ich habe meiner Familie versprechen müssen“, sagte Ceylan, „dass das der letzte Film war, den ich über sie drehe.“

Thomas Winkler

„Mayis sikintisi“. Regie: Nuri Bilge Ceylan. Mit: Mehmet Emin Ceylan, Muzaffer Özdemir, Fatma Ceylan; Türkei 1999, 130 Min. Heute, 19. 2., 18.30 u. 22.30 Uhr, International