Für den Gast nichts als malochen

Piste, Essen und Stimmung hervorragend – so steht es auf den Postkarten an die Lieben daheim. Was sich hinter den Kulissen eines gut besuchten Skiortes Tag und Nacht abspielt am Beispiel Ischgl ■ Von Rudi Kübler

Länger werden die Schatten, die Sonne senkt sich zwischen Gemsbleisspitze und Bergler Horn. Ruhe kehrt ein auf der Idalpe, nur noch wenige Tische sind auf der Terrasse in 2.300 Meter Höhe besetzt, die Kellner servieren die letzten Bestellungen für heute. Wer jetzt noch hier sitzt, hat seinen Stuhl in Richtung Sonne ausgerichtet. Piz-Buin-Stellung. Plastikschuhe poltern über Holzdielen, ein abgekämpfter Skiheroe schleppt sich zur Bergstation – kaum 20 Minuten später schaukelt die Gondel in die Talstation in Ischgl. Ende des Pistenrummels.

Beginn eines Arbeitstages. Kurz vor 16.30 Uhr. Günther Narr lässt das acht Tonnen schwere Gerät an. 280 PS brüllen auf, der Pistenbully setzt sich in Bewegung. Mit ihm weitere 17 Raupen, eine beeindruckende Armada gräbt sich durch den Schnee. Wohin geht die Fahrt? „Ins Höllkar“, sagt der 33-Jährige, der aus See stammt, dem Ort am Eingang zum Paznauntal. Seit sechs Jahren klemmt er sich Winter für Winter hinter das Steuer des Pistenbullys. Rund 1.000 Stunden pro Saison, umgerechnet fünf, sechs, sieben Stunden täglich. Wenn die Piste unterm Neuschnee zu ersticken droht, ackern die Männer zwölf Stunden und länger in den engen Cockpits. Pistenbully-Fahrer – der Sisyphus des Skitourismus.

Die Raupe frisst sich Meter um Meter den Steilhang empor, macht aus Buckeln eine plane Piste. Die linke Hand am Steuer, die rechte auf einem Knüppel, der die Schaufel in Position bringt. Nach oben, nach unten, zur Seite ... „Dazu braucht’s Fingerspitzengefühl“, erklärt er, der die Pisten aus dem Effeff kennt. Und genau weiß, wo er vorsichtig mit der Schaufel zu hantieren hat, weil nur wenige Zentimeter unterm Schnee die Steine lauern.

„Paznaun ist und bleibt ein Alpenthal und soll auf Verbesserung seiner Alpenwirthschaft dringen, das bringt ihm mehr Nutzen als eine Hand voll Touristen.“ So hatten die Neuen Tiroler Stimmen Ende des 19. Jahrhunderts argumentiert, als um den Bau einer Talstraße ein veritabler Pressekrieg entbrannte. Damals zählte Ischgl rund 650 Einwohner, sie fristeten ein karges Dasein. Der Boden gab nur wenig her; die Zangerls, Walsers und wie sie alle hießen, gingen als Tagelöhner und Handwerker in die Fremde, Kinder mussten sich im Schwäbischen verdingen.

Ischgl heute – das sind 400 Hotels und Pensionen, 8.600 Betten, 150.000 Gäste, 920.000 Nächtigungen pro Saison. Die Tourismusmaschinerie läuft. Dass sie nicht ins Stocken gerät, dafür sorgen nicht nur rund 1.400 Ischgler, sondern noch einmal dieselbe Zahl an Saisonarbeitern, vom Skilehrer über die Küchenhilfe bis hin zu Kellnern.

Kurz vor sieben Uhr. Still ruht der Ort, die Fenster sind noch dunkel. Nur die Silvretta-Talstation ist beleuchtet, Männer in blauen Anoraks geben sich die Klinke in die Hand. Unter ihnen auch Betriebschef Ernst Walser, der Herr der Gondeln. Geredet wird nicht viel, die Revisionsfahrt ist Routine. Nummer 141 steht bereit für die erste Fahrt, Funkgerät und Seil sind mit an Bord. Für den Fall der Fälle. Ein entwurzelter Baum auf dem Seil oder festgefrorene Rollen nach Regen und Kälteeinbruch – „alles schon vorgekommen“, sagt der gelernte Autoschlosser. Unliebsame Überraschungen hat die Dunkelheit, durch die die Gondel gleitet, heute nicht parat.

Die ersten Fahrgäste: Zig Köpfe Lollo rosso rauschen in die kalte, zugige Mittelstation. Kaum eine der roten Gondeln, die nacheinander aus dem Keller rattern und per Hand aufs Seil geschoben werden, ist jetzt leer. Während die Männer von der Pistenrettung, das Küchenpersonal und die Liftleute einsteigen, bereitet sich Priska Puggelsheim auf den Ansturm der Skifahrer vor. Sie sitzt die zweite Saison an der Kasse. Ihr zur Seite der Computer, der stumm seine Arbeit versieht; sie dagegen redet sich den Mund fusselig. Entspannte Gesichter sieht man in der Schlange kaum, die Anspannung ist gewaltig; Geduld ein Fremdwort. Raus aus dem Auto, rein in die Gondel – der Stress auf der Straße wird zum Stress auf der Piste. „Alles muss schnell, schnell gehen“, schüttelt ein Kassierer den Kopf. 2.300 Personen pro Stunde schafft die Bahn, sagt Maschinist Stefan Walser, „vorausgesetzt, die Leute machen mit“. 50, 60 Busse spucken ihren Inhalt aus. Gedränge vor den Drehkreuzen, ein riesiger Pulk vor dem Einstieg – um die Disziplin ist’s heute morgen schlecht bestellt. Jedem seine eigene Gondel. „Ja, so ist der Mensch“, räsoniert der Walser Stefan und wendet sanfte Gewalt an. Er greift zu den nächstbesten Ski und stellt sie in die Halterung der Gondel, und plötzlich bewegt sich auch der Besitzer der Ski. Na also. Widerspruch wird im Keim erstickt.

„Kung-Fu Fighting“ dröhnt aus den Lautsprechern, doch vom „Vollkontakt mit dem Gast“, wie Kellner Ralf Stocker sagt, sind er und seine sieben Kollegen auf der Terrasse der Idalpe noch eine gute Stunde entfernt. Leichtes Warmlaufen ist angesagt, mit Bier und Willis. Kurz nach zwölf Uhr dann Ramba-Zamba. „Jetzt zerlegn’s dich“, sagt der Vorarlberger im Vorbeigehen, zwei voll beladene Tabletts in den Händen. Seit vier Wintern bedient er auf der Idalpe.„Abends tun die Füße sakrisch weh“, klagt Kollege Alexander Troppmair. Zwischen 600 und 800 Essen, vom Apfelschaumsüppchen süß-sauer über feurig-marinierte Spare-Ribs bis hin zum Germknödel mit Heidelbeerfüllung tragen sie in rund zwei Stunden an die Tische. Zum Luftholen bleibt kaum Zeit.

Über den Umsatz der fünf seilbahneigenen Bergrestaurants, in denen 130 Personen – unter ihnen Slowaken, Türken, Nigerianer – beschäftigt sind, schweigt sich Manager Harald Seidler aus. Er lacht nur knitz. Ein paar Zahlen? Ja doch, aber nur unverfängliche. Beispielsweise 35 Tonnen Pommes frites, 4,5 Tonnen Spaghetti, 35.000 Portionen Gulaschsuppe und 200.000 Flaschen Bier. Alles pro Saison – die Bergluft macht’s.

Die Luft steht, der kleine Raum ist verqualmt. Was auch tun, wenn man nur wartet. Wartet auf den nächsten Skiunfall. Arthur Wächner, winters auf der Idalpe, sommers als Senner tätig, greift zum Zigarettenpackerl, Eugen Walser zum Fernglas. Die Hänge absuchen. 14 Mann stehen mit drei Motorschlitten und neun Ackjas bereit, um erste Hilfe zu leisten. In nur wenigen Minuten sind die Männer von der Pistenrettung beim Bänderriss, beim Oberschenkelbruch. Das Schlimmste? Eine offene Schädelfraktur, erinnert sich Emil Rudigier. „Blut im Schnee sieht fürchterlich aus.“ Der Heli schwebt ein- bis zweimal täglich ein, um die kritischen Fälle ins Tal zu bringen.

An der Tür klopft’s. Oben auf der elf hat’s einen Skifahrer aufgestellt. Das Knie. Emil, von seinen Kollegen „Zugpferd“ genannt, zieht Handschuhe über und setzt die Mütze auf. Zugpferd, was für ein Witz! „Höllenhund“ wäre die treffende Bezeichnung. Den Motorschlitten beschleunigt er stellenweise auf über 50 Stundenkilometer, wild hupend schießt er an verduzten Skifahrern vorbei, um nach drei Minuten an Ort und Stelle zu sein. Der Mann ist schon wieder auf den Beinen, aber abfahren will er vorsichtshalber nicht. Emil fixiert das Knie, packt den Mann auf den Motorschlitten – und ab geht’s Richtung Bergstation.

Drückt der Skischuh, schmerzt der Kopf, ist der Fingernagel eingerissen – die Männer helfen. Nicht mehr zu helfen war allerdings einem Handy, das Mister Wichtig auf der Piste verloren hat. „Da ist leider der Pistenbully drübergefahren“, erklärt Eugen dem leicht konsterniert wirkenden Schönling. Und kriegt sich fast nicht mehr ein.

Schorsch Zangerl sitzt derweil am Ausstieg der Flimjochbahn. Morgens ist er der erste in rund 2.700 Meter Höhe, überprüft die Rollen; abends ist er der letzte, macht oben das Licht aus. Ein öder Job? Nein, sagt der Nachrichtentechniker, der den „Liftler“, denjenigen also, der nichts anderes kann, als dem Gast den Bügel unters Gesäß zu klemmen, in den Bereich der Legende verweist. „Wir haben alle einen Beruf erlernt. Der eine ist Koch, der andere Schlosser“, sagt der Schorsch, der seine dezidierte Meinung zum Skitourismus pflegt. „Wir haben unsere Berge und vermarkten die halt – zu 100 Prozent.“