Pro und Contra: Kann jeder, mit etwas Glück und Geschick,jetzt im Aktienrausch reich werden, oder verschärft der Boom anden Börsen eher noch die Einkommensunterschiede? Ein taz-Streit
: Die neuen Tellerwäscher

Hunderttausende von KleinanlegerInnen steigen neu in den Aktienmarkt ein. Jetzt, wo beispielsweise auch die Siemens-Tochter Infineon an die Börse geht und dies in ganzseitigen Zeitungsanzeigen bewirbt, wird an Wohnzimmertischen erneut über Für und Wider der Aktienanlage gestritten. Nicht mehr die Arbeit scheint des Bürgers Zierde zu sein in der neuen Welt des Börsenkapitalismus. Seit die Kurse an der Börse in die Höhe schießen, sind neue Eigenschaften gefragt: Flexibilität, Risikobereitschaft, Neugier.

Der Aktienmarkt ist für diese Tugenden der geeignete Ort. Alte Privilegien gelten nicht mehr. Das war schon früher so. Schon vor 300 Jahren waren die ersten Börsen Orte, in denen Menschen die Fesseln ihrer Herkunft, die Vor- und Nachteile „durch Geburt“, abstreifen konnten und über Nacht zu Reichtum kamen. Für Frauen aus besseren Kreisen war das Spiel an der Börse eine Möglichkeit, persönliche Erfolge zu erringen, wo ihnen doch die Arbeitswelt verschlossen war.

Auch heute hat es etwas Befreiendes, wenn protestantische Arbeitsethik, Fleiß und Disziplin an Bedeutung verlieren. Wenn kleine kaufmännische Angestellte durch die richtige Investition in den richtigen Fonds plötzlich ihr Vermögen vervielfachen und aus relativ wenig Geld bereits innerhalb von Monaten große Summen machen können. Unsere Zeit ist geprägt durch radikal neue Möglichkeiten: Damit einher geht auch eine Demokratisierung des Zugangs zu Wohlstand.

Im Zuge des Aktienbooms wird das System der Marktwirtschaft flexibler und durchlässiger, als es bisher war. Wer bereit ist, eine gewisse Zeit des Tages auf die Beobachtung des Geschehens an der Börse zu verwenden, hat die Chance, sich binnen kurzer Zeit auf ein anderes soziales Niveau zu katapultieren. Das dafür notwendige Wissen liefern neue, alltagstaugliche Sendungen und Zeitschriften. Sie popularisieren bislang auf Fachkreise beschränktes ökonomisches Know-how. Die an den Kiosken erhältlichen Magazine sagen oft mit erstaunlicher Treffsicherheit die Aktien voraus, die in den ersten drei Tagen nach dem Börsengang ihren Wert verdoppeln. Und wer spekulieren will, kann das neuerdings vom heimischen Schreibtisch aus erledigen. Die nötigen Utensilien – PC, Internetzugang, Zugriff auf die Web-Seite eines Aktienhändlers – werden zur Massenware. Auch eine neue ökonomische Basis entsteht: Hunderte Kleinunternehmen gehen allein in Deutschland jährlich an die Börse, locken Geld und AnlegerInnen. Diese Aktien und ihre Kurse sind wesentliche Quellen des neuen Reichtums.

All das ist der Stoff, aus dem neue Tellerwäscher-Karrieren entstehen. Wie im 19. Jahrhundert der USA und Deutschlands reißen plötzlich Löcher in der sozialen Hierarchie auf, durch die man schnell auf-, aber auch absteigen kann. In der Informationsgesellschaft brechen dabei dank des Internets alte Barrieren weg: Jeder, der Zeit und Lust hat, kann sich nach Feierabend noch über Finanzmärkte, über Unternehmensbilanzen informieren. Damit entsteht mit der Euphorie der Kleinanleger auch ein Stück Volksbildung. Noch nie zuvor war die Gelegenheit so günstig, sich solides Wissen über die Funktionsweise von Finanzmärkten anzueignen.

Wer immer nur warnt vor den Verlockungen der Börse, setzt sich daher dem Verdacht aus, moralisch zu argumentieren. Gründerzeit, Tellerwäscher, Aktienboom: diese Mythen beschrieben und beschreiben reale Möglichkeiten, die das soziale Gefüge in Frage stellen – und sicher manchem Bildungskleinbürger auch Angst machen. Dabei gibt es keine Garantien. Es handelt sich dabei nur um Chancen – die aber immerhin jedes Individuum wahrnehmen kann. Vielleicht ist das ehrlicher in Zeiten, in denen zunehmend der Markt über die Politik regiert.

Hannes Koch