Deutschstunde für Insektenforscher

Der Berliner Schriftsteller Marcus Braun bastelt gerne mal länger an seinen Sätzen. Für seinen Roman „Nadiana“ zum Beispiel hat er sieben Jahre gebraucht. Jetzt dürfen alle miträtseln: „Ich finde es spannend, wenn der Leser die Hälfte der Arbeit macht.“ ■ Von Nadine Lange

Am liebsten wäre es Marcus Braun, wenn man von ihm nur Buchstaben sehen würde. Man soll seine Romane lesen, mehr braucht man nicht zu wissen: „Die Texte sind wichtig, nicht die Person.“

Der Berliner Autor Marcus Braun ist 28 Jahre alt und verglichen mit den meisten seiner JungschriftstellerkollegInnen ziemlich scheu: Nie würde er eine Talkshow besuchen, und in seinen Büchern gibt es nicht mal ein Autorenfoto. Nur für eine Lesung ist er zu haben, allerdings ungern.

Geduckt sitzt der schmächtige Schriftsteller in der Literaturwerkstatt Pankow über seinem zweiten Roman „Nadiana“. (Berlin Verlag, Berlin 2000. 173 Seiten, 29.80 Mark) Er liest monoton und fahrig, wie ein gelangweilter Schüler, der sich das baldige Ende dieser Deutschstunde wünscht. Zu Hause geübt hat er nicht, aber den Text kennt er gut. Insgesamt hat er rund sieben Jahre an den 173 Seiten gefeilt und gefrickelt.

Marcus Braun liest das vierte und das neunte Kapitel – eine gute Wahl. Es hört sich so an, als ginge es darin tatsächlich um so konkrete Dinge wie Unfälle. Man kann sich festhalten an der liebevollen Beschreibung eines Autos, das „dreiundreißig Jahre mit der Frau eines LKW-Fahrers zusammengelebt“ hatte, oder einer Minigroteske über einen malenden Pfarrer. Ansonsten geht es in „Nadiana“ weitaus wilder zu: Protagonist Rosenbaum driftet eifersüchtig durch wahnhafte Gewaltfantasien, und sein Gegenspieler Stroheim schreibt sonderbare Briefe.

Direkt zu verstehen ist der Text in den meisten Fällen nicht. Das macht aber nichts, denn Marcus Braun sieht Verrätselungen und Anspielungen vor allem als Angebot zum Mitdenken: „In der konventionellen Erzählung wird man abgeholt und irgendwohin gebracht. Ich finde es spannender, wenn der Leser die Hälfte der Arbeit macht“, sagt er.

Das kann richtig hart werden. So ist Brauns erster Roman „Delhi“ (1999) an den 32 Zügen einer Schachpartie zwischen Kasparow und Hjartarson entlanggeschrieben. Außerdem finden sich darin hübsche Reminiszenzen an einen „totgeglaubten Fluginsektenforscher“ – damit ist Vladimir Nabokov gemeint. Und wem sich das alles nicht erschloss, der musste „Delhi“ eben als verzwickte Geschichte über einen jungen Architekten lesen, der in der indischen Hauptstadt in ein wahnwitziges Mordkomplott gerät.

Drei Jahre hat Marcus Braun an diesen 174 Seiten geschrieben. „Nur“ drei Jahre. Für sein nächstes Buch will er sich fünf Jahre Zeit nehmen – es soll 500 Seiten haben. Mehr weiß der Autor bisher noch nicht über sein neues Werk. Mit einer Ausnahme: „Katzen müssen in jedem meiner Bücher vorkommen. Die nächste wird Herodes heißen.“ Er liebt Katzen und bedauert, dass er in seiner Kreuzberger Altbauwohnung – ohne Heizung und Fernseher – keine halten kann.

Marcus Braun ist in Bullay aufgewachsen, einem Winzerdörfchen an der Mosel. Mit 17 Jahren wusste er, dass er Schriftsteller werden wollte, und versuchte sich auch gleich an einem Roman, aber das war damals noch eine Nummer zu groß. Braun machte Abitur, begann in Mainz Germanistik, Philosophie und Jura zu studieren. Gleichzeitig bastelte er weiter an der Schriftstellerkarriere: Veröffentlichte Prosa in Zeitschriften und Anthologien, schrieb ein Theaterstück und veröffentlichte ein Bändchen Prosa: „Ohlem. Fragment 1989 – 1992“.

Der Durchbruch kam 1997, als ihn der Schriftsteller und Ingeborg-Bachmann-Preis-Juror Thomas Hettche zum Klagenfurter Vorlesen einlud. Braun stellte das erste Kapitel aus dem „Nadiana“-Manuskript vor, in dem sich Rosenbaum auf dem Pariser Gare de l’Est mit einer winzigen gefleckten Katze unterhält. Braun bekam keinen Preis. Dafür begeisterte sich der Lektor Mathias Gatza vom Berlin Verlag für den Text. Aber Braun veränderte die Klagenfurter Fassung so stark und so lange, dass letztes Jahr zuerst sein später begonnener Roman „Delhi“ erschien. Eigentlich seltsam: Jeder unbekannte Schriftsteller möchte normalerweise seinen Text schnell gedruckt sehen, zumal von einem recht renommierten Verlag. Doch Marcus Braun will eben ganz besondere Worte finden – so was kann dauern.

Seit etwa einem Jahr kann Braun vom Schreiben leben. Das Studium hat er inzwischen „für unbestimmte Zeit unterbrochen“, sagt er, und lächelt etwas verhuscht – zurückhaltende Freude über einen verwirklichten Teenagertraum. Die Zeit der Nebenjobs ist vorbei. Marcus Braun sitzt jeden Tag am Computer, manchmal auch an einer Schreibmaschine, und grübelt über neue schöne Sätze nach. Spätestens in fünf Jahren können wir sie dann lesen.

Marcus Braun liest heute um 19.30 Uhr zusammen mit Jan Peter Bremer im Maria am Ostbahnhof, Straße der Pariser Kolumne 8 – 11