Pampuchs Tagebuch
: Kehrwoche in Humboldts neuer Welt

Manchmal sind wir einfach überlastet, ich und mein kleines treues Kistchen, das nach eineinhalb Jahren tausende, wenn nicht zehntausende von Dateien, E-Mails, Websites, Programmen, Unterprogrammen, Dateienordnern, Signalen, Hilfen und weiß der Teufel was noch alles gesammelt und gespeichert hat. Wenn ich in meinen Explorer gucke, wird mir ganz schwindlig. Und es erfasst mich kurzfristig eine Putz- und Aufräumwut, wie man sie sonst nur von schwäbischen Kehrwöchnerinnen kennt. Der Unterschied zur Kehrwoche allerdings besteht bei mir darin, dass ich eigentlich fast nie weiß, was ich meinem „Papierkorb“ überantworten darf. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass ich bei vielen dieser geheimnisvollen Dateien nicht einmal ahne, welche Funktion sie haben und was ihr Herausschmiss für Folgen zeitigen könnte. Ich bin immer wieder erstaunt, was sich da in kürzester Zeit alles auf meiner Festplatte breit gemacht hat. Natürlich habe ich inzwischen begriffen, dass es „Temporary Internet Files“ gibt und dass man die löschen kann. Und selbst bei den E-Mails habe ich – nachdem sie bereits auf über tausend angewachsen sind – damit angefangen, gelegentlich Botschaften zu vernichten – auf die Gefahr hin, dass sie sich dereinst einmal als unwiederbringliche Quellen der Geistesgeschichte der Jahrtausendwende erweisen könnten.

Doch der Löschbefehl – der immer mit der bösartigen Frage „Wollen Sie wirklich . . .?“ einhergeht – stürzt mich regelmäßig in tiefen Zwiespalt. Will ich wirklich? Ist die Festplatte nicht recht eigentlich das ideale Instrument einer nie für möglich gehaltenen umfassenden Dokumentation meines Wandelns und Treibens, meines Wirkens und Kommunizierens? Ein Logbuch nicht nur meiner Reisen im Cyberspace, sondern auch des forschenden, sammelnden Geistes? Ein gewachsenes persönliches Archiv von Daten und Zugriffen, von Favoriten und Adressen, von Recherchen und Verbindungen. Und jeder Menge neuer (wenn auch häufig unbegriffener) Möglichkeiten, Programme und Anwendungen. Darf man so was einfach wegkehren? Muss so was nicht aufbewahrt werden? Humboldt, der große Universalgelehrte und Reisende vor zwei Jahrhunderten, fällt mir ein, der mit Kisten über Kisten von seiner 5-jährigen Reise aus den Aquinoktialgegenden der Neuen Welt zurückkehrte und dann ein Leben lang damit verbrachte, das Gesammelte zu sichten, zu ordnen und zu bewerten. Was hätten ein Humboldt, ein Darwin, ein Marco Polo gemacht, hätte ihnen – den großen Explorern ihrer Zeit – ein Laptop zur Verfügung gestanden? Hätten die etwa – der bloßen Ordnung wegen – Daten gelöscht?

Doch dann höre ich mein Kistchen ächzen, sehe Kolonnen von Dateiordnern und von unbekannten Programmen, und ich fühle mich plötzlich bedroht von einem ganz individuellen Informations-Overkill. Ich bin nicht Humboldt, ich bin kein Archivar, ich will nicht alles voll gestopft haben und schon gar nicht meine Festplatte. Es ist der uralte Konflikt zwischen dem Wunsch, zu sammeln und zu bewahren, und dem Bedürfnis, Ballast abzuwerfen und auszumisten. Das Drama Hamsterbacke gegen Entrümpler. Delete or not delete? Mit einem Mausklick bloß?

In solchen Momenten beneide ich dann all jene glücklichen Existenzen, die unbeschwert wegschmeißen, entsorgen und aufräumen können, in stolzer, freudiger Kehrautonomie. Und ich sitze vor meiner Kiste, die immer voller wird, und zaudere. Manchmal aber, in seltenen, glückhaften Momenten, wage ich den Befreiungsschlag. Besitz, auch Datenbesitz, versklavt. Humboldt möge mir verzeihen. Thomas Pampuch

thopampuch@aol.com