InFußballland

Christoph Biermann

In Aachen haben sie jetzt eine Anstoßkreisfahne und freuen sich sehr darüber. Der Stadionsprecher weist jedenfalls darauf hin, und die Menschen auf den Rängen klatschen. Die Fahne füllt vor dem Spiel den Anstoßkreis aus und wirbt für eine Versicherung. Wenn die Partie angepfiffen wird, rollen Helfer sie ein. Das ist ein wenig wie in der Champions League, auf jeden Fall ein Zeichen für das, was sie in Aachen für die große weite Welt halten.

■ Auch im Fußball gibt es eine Zeitder Unschuld. Das istwie in der Liebe.

In Aachen haben sie auch eine Hymne, die vor dem Spiel aus den neuen Lautsprecherboxen kommt. Es ist die langsamste Hymne, die man sich vorstellen kann. Zwischendurch denkt man, dass sie schon zu Ende ist, aber dann war es nur eine Pause vor dem nächsten Takt. Hurra, wir sind wieder da, heißt es in dieser Hymne, und alle singen mit, was ziemlich laut ist, denn der Tivoli ist eng und die Ränge meist gut besetzt.

Auch im Fußball gibt es eine Zeit der Unschuld. Das ist wie in der Liebe, wenn sie das noch ist und keine Beziehung. Es gibt noch den verzeihenden Blick, die Mängel sind nicht das, sondern Grund genug für noch mehr Hingabe. Mit den Enttäuschungen ist es genauso, sie werden mehr als verziehen. Diese Unschuld ist naiv. Ach, könnte man sie doch für immer bewahren!

Alemannia Aachen spielt einen naiven Fußball, der noch keinen Blick auf das Ergebnis kennt. Die Mannschaft gibt stets alles, denn jedes Spiel ist das große Spiel. Sie vergisst dabei die Abwehr, denn warum sollte man abwehren, wenn man auch stürmen kann. Sie rennen das Spielfeld hinauf und herunter, ohne nur einen Moment lang Gedanken an die Rationalität dieser Läufe zu verschwenden. Kinder sind auch so.

Der Trainers des Teams ist jung und wird oft von seinen Gefühlen übermannt. Auch für ihn ist jedes Spiel das große Spiel, denn vorher hat er noch keine Mannschaft im Profifußball trainiert. Er hat nicht alles schon gesehen, und deshalb wird die unglückliche Niederlage für ihn zu einer Tragödie, der glückliche Sieg zum gottgeschenkten Triumph. Das macht ihn sprachlos, sagt er dann. Erschöpft von den Emotionen, so schön, so grausam.

Das Publikum liebt die Mannschaft und den Trainer auch, denn es erkennt sich in ihnen wieder. Der Spieltag mit seinen Aufregungen ist ein Geschenk und in ihren Leben neu. Alemannia war so lange in irgendwelchen dritten Ligen verschwunden, wo sich niemand für sie interessierte. Die Tradition stammt aus der Zeit davor, aber jetzt beginnt alles von vorne.

Die Zuschauer bejubeln die ungestümen Angriffe ihrer Mannschaft und betrauern deren Ungeschick in der Abwehr. Doch wenn man sich so anstrengt wie die Jungs unten auf dem Rasen, wird alles gut. Das ist die tröstende Botschaft, die man vom Tivoli mit in die Woche nehmen kann. Und wenn es einmal nicht geklappt hat, darf man sich nicht unterkriegen lassen. Das ist die andere Botschaft, und auch sie ist tröstlich.

Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, ob sich Fußball früher immer so angefühlt hat. Jedenfalls hat das Gefühl der Zeitreise nicht mit dem Stadion hier zu tun, das wie von früher aussieht. Inmitten dieser Rotbäckigkeit werde ich an eine Unschuld erinnert, die ich längst verloren habe.

Das mag traurig sein, aber auch in Aachen werden sie sich ihre Naivität nicht bewahren können, denn die ist unabwendbar flüchtig. Eine besonders gescheite Voraussage ist das nicht, sondern schlicht absehbar. Irgendwann wird irgendwer nach Erfolgen zu fragen beginnen, weil es gegen den Abstieg oder um den Aufstieg geht. Sie werden Investitionen an Punkteständen abgleichen. Der Trainer wird ins Schwitzen geraten und seine Spieler nicht mehr für ihren Einsatz loben, sondern an dessen Ergebnissen kritisieren. Das Publikum wird mit dem, was es heute noch bejubelt, nicht mehr zufrieden sein. Nichts wird so bleiben, wie es heute ist. Aber dann wird Aachen, das auch schon mal Meppen war oder Freiburg, Ulm oder St. Pauli, anderswo sein. Und wir werden gerne dorthin kommen.