Unerkannt zu bleiben ist der beste Schutz

Die französische Korrespondentin Anne Nivat über ihre Arbeitsbedingungen im Kaukasus

1. Oktober 1999. Die „antiterroristische Operation“, die die russischen Truppen gegen die nach Unabhängigkeit strebende Republik Tschetschenien führen, beginnt. Mit dieser Bezeichnung gibt der Kreml das Vokabular vor, um die Wahrheit, den Krieg, in der Öffentlichkeit zu verschleiern.

Da ich mich bereits anlässlich des ersten russisch-tschetschenischen Konfliktes (1994–1996) für den Nordkaukasus interessiert habe, zögere ich nicht: Ich muss dort hinfahren, bevor die Grenzen ganz geschlossen werden.

Ende September nehme ich ein Flugzeug nach Machatschkala, in die Hauptstadt von Dagestan, einer Nachbarrepublik Tschetscheniens. Von dort aus hatten die „Banditen“ und „Terroristen“ unter dem Kommando von Schamil Bassajew im August eine bewaffnete Aktion gestartet. Mit diesem „Überfall“ begründete die russische Seite ihre „antiterroristischen Operation“.

Von den beiden Dörfern Karamaschki und Tschabanmaschki ist nichts mehr übrig. Die russische Luftwaffe, die gekommen ist, um die örtliche Bevölkerung gegen die Angriffe der Wahabiten (muslimische Fundamentalisten) zu verteidigen, hatte sie unter Beschuss genommen. Die zwischen den Trümmern umherirrenden Bewohner werden sowohl von russischen Bomben als auch von den Wahabiten terrorisiert.

Ich spüre bereits, dass sich in Tschetschenien bald das nächste Drama abspielen wird. Also begebe ich mich in einen Autobus (26 Stunden Fahrt) von Dagestan nach Inguschetien. Es ist nötig, die gefährlichen tschetschenischen Gebiete sorgfältig zu umfahren.

Der Krieg hat bereits begonnen. Ich muss unauffällig bleiben. Der Bus, in dem ich mit einheimischen Reisenden zusammen bin, bleibt mein bevorzugtes Transportmittel. Von Inguschetien gelange ich nach Tschetschenien auf die Route Rostov–Baku. Dies ist die wichtigste Verkehrsachse, die den Süden Russlands mit der Hauptstadt von Aserbaidschan am Kaspischen Meer verbindet. Diese Route ist unproblematisch, weil diese Straßen nicht blockiert sind. Aber seltsamerweise benutzt sie kein Journalist. Die meisten befürchten Geiselnahmen. Damit hat sich die kleine Kaukasusrepublik in den Nachkriegsjahren einen Namen gemacht.

Ich nehme die Route dennoch. Daran gewöhnt, allein zu reisen, sage ich mir, dass das in diesem Fall nicht nur notwendig, sondern auch wünschenswert ist. Je weniger Personen über meine Identität Bescheid wissen, desto sicherer bin ich. Ich lehne es also ab, mich von zweifelhaften Bodyguards und Übersetzern, deren einziges Ziel es ist, Geld zu machen, begleiten zu lassen. Während jeder meiner Reportagen ist meine einzige Sorge die Diskretion. Zwei Merkmale wirken sich zu meinen Gunsten aus: Ich bin eine Frau und habe einen dunklen Teint. Außerdem trage ich, wie die Einheimischen, einen langen Rock, egal wie kalt es ist, und ein Kopftuch.

Im Kaukasus kontrolliert man Frauen nicht. Da ich als einziges Gepäckstück nur einen Plastikbeutel habe, kommt niemand darauf, dass ich Französin bin. Weil ich schreibende Journalistin bin, brauche ich als Werkzeug nur Papier und Bleistift, unauffällig und leicht zu verstecken. Das einzige Problem ist mein Satellitentelefon, lästig, aber unerlässlich. Da ich für Tageszeitungen arbeite, kann ich auf dieses Kommunikationsmittel nicht verzichten. Es ermöglicht mir, meine Artikel, die ich per Hand schreibe, durchzutelefonieren.

Im Verlauf der Wochen wird es von Tag zu Tag schwieriger zu arbeiten. Nicht nur wegen der Bombardierungen, die immer schlimmer werden und das Einzige sind, wogegen mich niemand schützen kann, selbst die beste Versicherung nicht. Es ist vor allem das Risiko, von den russischen Truppen entdeckt zu werden, von denen ich weiss, dass sie keine Journalisten wollen.

Im November passiere ich ohne Schwieirgkeiten die Grenze und finde mich auf Territorum wieder, das noch nicht unter russischer Kontrolle ist; ab Ende 1999 ist das nicht mehr der Fall.

Das „unabhängige“ Tschetschenien ist zusammengeschrumpft, und ich muss mit der größtmöglichen Zurückhaltung agieren, um das Gebiet zu überqueren, das diejenigen kontrollieren, die bombardiert werden. Eine klassische Frontlinie existiert nicht. Es gibt so viele „Linien“, wie Dörfer unter Beschuss liegen.

Ein Gebiet, das die Russen „befreit“ haben und wo sich die Bewohner in Sicherheit fühlen könnten, kann im nächsten Augenblick zur Zielscheibe von Artilleriebeschuss und Bombardements der Luftwaffe werden.

Mehrmals wurde ich Zeuge solcher Angriffe, erst kürzlich in Alkhan Kala nahe bei Grosny, wo sich mehrere tausend Unabhängigkeitskämpfer eingefunden hatten, die entschlossen waren, die Hauptstadt zu verlassen.

Am 1. Februar, einem Dienstag, zwischen 12 und 17 Uhr wurde dieses Dorf mit rund 15.000 Einwohnern beschossen. Die russischen Truppen mussten erfahren haben, dass sich in dem Ort neben den Zivilisten auch Kämpfer befanden, die in der Nacht auf ihrem Weg in die Berge eingetroffen waren.

Eine Woche später, am 7. Februar, entdecken mich zufällig Offiziere des FSB (Ex-KGB) während einer Hausdurchsuchung bei einem Mitbewohner von Novi Atagi. Sie nehmen mir meine Arbeitsmaterialien und Hilfsmittel weg, lassen mich aber zurück. Offenbar haben sie keine Anweisungen, mich mitzunehmen. Ich bin perplex, versuche aber schnell meine Sachen wiederzubekommen. Ich beschließe, zunächst zu bleiben, weil ich weiss, dass sie zurückkommen.

Sie kommen zurück, am Samstag, dem 19. Februar, und befehlen mir, sie für ein Gespräch nach Mosdok zu begleiten, dem Sitz der russischen Truppen im Nordkaukasus. Sie wurden sehr unangenehm, doch ich bekomme mein Satellitentelefon zurück und mein Notizbuch mit den Telefonnummern.

Was meine Artikel betrifft und mein Heft mit Aufzeichnungen, so ändert der FSB seine Meinung und verlangt, nachdem alles sorgfältig fotokopiert wurde, die Originale. Was tun? Ich verlange, dass man mir wenigstens die Kopien aushändigt. Zögernd stimmen sie zu, und wir fahren auf mein Drängen hin zum Gebäude der Staatsanwaltschaft. In einem handschriftlich verfassten Schreiben wird mir die Rückgabe der Originale zugesichert. Und zwar vor dem 1. Mai 2000.