„Die Harmoniesauce wird ausgeleert“

■ Der Hamburger Verlagsleiter Rainer Moritz zu Literatur, Sozialklischees und dem FC St. Pauli

Analogien zwischen Fußball und Literatur werden gerne gezogen, erweisen sich aber meist als untauglich. Rainer Moritz, „völlig undistanzierter“ 1860-München- und „kritischer“ St.-Pauli-Fan, mag das nicht. Der 41-jährige Verlagsleiter bei Hoffmann und Campe, gehört den Wenigen, für die der SC Freiburg kein Gegenmodell ist und die Günter Netzer nicht für ein Sinnbild der Utopie halten.

taz: Tag Herr Moritz, ich schaff mir mal ein wenig Platz an Ihrem Schreibtisch.

Rainer Moritz: Bitte. Was ich alles lesen soll: Seit zehn Jahren schwappt eine Riesenwelle an Fußball-Literatur über uns herein. Das Innenleben eines Fans, mit seinen Abnormalitäten im Sozialverhalten, abzubilden, wie Nick Hornby in „Fever Pitch“, ist noch keinem deutschen Autor gelungen. Bei uns benutzen die Literaten den Fußball, um ihn metaphysisch zu überhöhen, als Vorlage für den Kriminalroman oder als Sozialanklage: Das Knie geht kaputt, der Star fängt zu trinken an. Mein Schreibtisch biegt sich dabei durch.

Jammern Sie nicht, Sie haben die Fußball-Literatur mit zwei Werken angedickt.

Fußball kompensiert intellektuelle Arbeit. Soll ich mich nur mit Schopenhauers Mitleidsethik befassen? Fußball leert den Kopf.

Ihr ganzer Bezug zum Ballsport?

Ich war von 17 bis 25 Schiedsrichter, habe mich als Linienrichter bis in die Oberliga hoch gewunken. Heute bin ich vor allem Fan von 1860 München. Den Mitgliedsausweis habe ich immer bei mir. Wollen Sie ihn sehen?

Lassen Sie stecken. Sie gehören nicht zur sozialromantischen Fraktion, die darauf schwört, dass die Rettung für den deutschen Fußball von den Rändern kommt?

Vom SC Freiburg, dieser georgisch-tunesisch-südbadischen Mischtruppe? Es ermüdet, immer wieder dieselben Gegenmodelle vorgeführt zu bekommen in einem System, das nach spätkapitalistischen Regeln funktioniert. Auch in Freiburg. Trotzdem ist der SC die größte Projektionsfläche der deutschen Kulturszene.

Das müssen Sie erklären.

Da sammeln sich Intellektuelle zum gemeinsamen Diskurs. Es wird vom ästhetischen Fußball geschwärmt, der sich vom rational orientierten absetzt: Lieber wird gut gespielt und 3:4 verloren und anschließend wird die Harmoniesauce ausgeleert. Wer aber den Schmerz eines Abstiegs kennt, wer heulend um Häuserblocks geschlichen ist, ist beglückt über ein grausames 1:0, das die Klasse erhält.

Der FC St. Pauli ist ein ähnlich mythosbeladenes Gebilde.

Hat meine Sympathie. Aber muss man sich zum ewigen Underdog stilisieren? Das propagierte Bild des FC zeigt starke Risse auf, das Geld kratzt schwer an seiner Identität.

Wie beurteilen Sie die Spieler vom Millerntor?

Die auffälligen befinden sich im Ruhe- und Vorruhestand wie Volker Ippig oder Klaus Thomforde. Und natürlich Dieter Schlindwein, das ewig zerstörerische Element. Von den aktuellen habe ich bei Marcus Marin immer noch die Hoffnung, dass er viel kann.

So redet man von einem Talent, Marcus Marin ist 33.

Ob Talent oder Routinier, auch bei St. Pauli sind die Spieler austauschbar geworden.

Jetzt kommt die Klage, dass es im Fußball, außer bei 1860, keine Typen mehr gibt?

Die ist seit 100 Jahren Bestandteil des Kulturpessimismus. Aber es ist eine wachsende Mediensehnsucht, das vermeintlich Unverwechselbare zu schaffen – wie schon bei der rätselhaften Mythologisierung von Günter Netzer: Aus der Tiefe des Raumes kommend, umweht vom Geist der Utopie. Die Produktion von Originalen muss heute noch stärker darüber hinwegtäuschen, dass der TV-Fußball die perfektionierte Langeweile wird. Ob Mario Basler oder Lars Ricken: Jeder, der nur den Anflug von Originalität hat, wird stilisiert – und fällt ganz schnell unter die Lächerlichkeitsgrenze. Das ist in der Literatur genauso, wo sich Jungautoren wie Benjamin Lebert oder von Stuckrad-Barre zur Lachnummer schreiben.

Interview: Rainer Schäfer