Verstörende Details

Keine Bewegung, sondern eine Haltung des Blicks: „Surreale Welten“ in der Kunsthalle  ■ Von Hajo Schiff

Mit Provokationen und Perversionen qualifizierte sich einst der Surrealismus als Bügerschrecckunst. Doch schockieren lässt sich heute so leicht niemand mehr und die sexuellen Obsessionen von Salvador Dalí oder Hans Bellmer haben inzwischen eher etwas leicht Ranziges.

Was die Hamburger Kunsthalle jetzt in dreizehn Kabinetten umfangreich präsentiert, ist denn auch kein Ismus aus dem Lehrbuch, sondern der Aspekt des Surrealen in einem weitgefassten Kunstspektrum vom Barock bis heute. Die bemerkenswert umfangreiche und qualitätvolle Zusammenstellung von Piranesi bis Dubuffet ist eine Sammlung eines namentlich nicht genannt werden wollenden norddeutschen Privatmannes, der vor zwei Jahren bereits der Kunsthalle das Gemälde Figure humaine von Max Ernst geschenkt hat. In zweihundert wortwörtlich phantastischen Arbeiten zeigt sich die faszinierende und traumatische Traumwelt hinter der Realität aus der Sicht von 52 Künstlern.

Nicht ein Kunsstil verbindet die Arbeiten, sondern eine Haltung, die im Abbild der Welt die verstörenden Details thematisiert. Der Vedoutenstecher Piranesi hat seine Radierungen römischer Keller zeichnerisch immer weiter verdichtet bis die Gewölbe eine nicht mehr rational erfassbare Welt voller Treppen und Irrwege, voller verloren kleiner Menschengruppen und übergroßer Statuen, voller Folterwerkzeuge und Abgründe umfassten. Seine ausweglose Situation des Zusammenfalls von Innenwelt und Außenwelt nennt er doppeldeutig Carceri d'inventione, erfundene Kerker oder doch eher Kerker der Erfindungsgabe?

Die Gabe der Erfindung lässt Carles Meryon, einen anderen genauen Architekturschilderer, das Überirdische in seine Ansichten einbrechen oder erlaubt Max Klinger in der Zeichnungsfolge Phantasie über einen gefundenen Handschuh, der Dame, die ihn verlor, gewidmet, eine Alltagssituation in abenteuerlich erotisierte Fetischträume abgleiten zu lassen. Die Verwandlung der Dinge, eine metamorphotische Welt, in der nichts sicher ist und keine festen Grenzen mehr gelten, ist ein Haupthema bei den Surrealisten dieses Jahrhunderts: Dalís Studie zum Außenbezirk der paranoisch-kritischen Stadt zeigt, wie ein Pferdehinterteil zu einem Totenkopf, einer Weintraube und dem Kopf der Geliebten wird. Dabei nützt es nichts, nach den speziellen Verrücktheiten in der Psyche eines Künstlers zu fragen, vielmehr sollte man die Methoden und Bilder nutzen, die eigene Wahrnehmung zu prüfen.

Dazu eigenen sich auch gut die für das intellektuelle Spiel und die Darstellung unbekannter Begrifflichkeiten entworfenen Bildbühnen von René Magritte. Sie fehlen ebenso wenig in der Ausstellung, wie Max Ernst und Picasso oder eine große Werkgruppe von Paul Klee. An zerbrochene und virtuelle Räume ist man heutzutage weitgehend gewöhnt, Hans Bellmers sadistisch-sexuelle Dekonstruktionen des menschlichen Körpers mögen aber manchmal noch irritierend nahe gehen. Auch bei diesem Künstler haben die bearbeitenden Wissenschaftler in der Sammlung Neuland entdeckt: Ein so niemals realisierter Entwurf für eine Edition handkolorierter Puppenfotos kann hier erstmals gezeigt werden.

Die seltensten Objekte der Ausstellung sind von Jean Dubuffet: Seine aus Schmetterlingsflügeln collagierten Köpfe sind zugleich äußerst fragil und doch brutal und verströmen trotz des barocken Materials eine ziemliche Traurigkeit. So wie der Beginn im 18. Jahrhundert wird auch dieser Künstler traditionell keineswegs zu den Surealisten gerechnet, ebensowenig wie der Bildhaurer Henri Laurens. Doch den surrealen Blick als einen übergreifend möglichen Zugang zur Kunst zu behaupten, ist gerade die Leistung dieser mit privater Liebe und Kennerschaft zusammengestellten Sammlung.

„Surreale Welten“, Hamburger Kunsthalle, bis 9. Mai, ausführlicher Katalog bei Skira, 272 Seiten, 45 Mark. Zur Ausstellung läuft ein Filmprogramm im Metropolis