„Man muss die Eltern ändern“

Bei Triangel, einem in Deutschland einmaligen Projekt, werden die Eltern von schwer erziehbaren Kindern therapiert. Dann, so die Theorie, bessern sich auch die Kinder ■ Von Annette Rollmann

In Neukölln sind die Bürgersteige schmal. Entlang der grauen Ausfallstraßen im Arbeiterkiez gehen junge Männer mit breitem Gang. Wer hier Ärger sucht, findet ihn. Daniel P., heute 11 Jahre alt, hat den Ärger früh gesucht – schon im Kindergarten. Er „flippte“ aus und bedrohte seine Kindergärtnerin mit einer Flasche. Später in der Schule ging er auf andere mit einem Messer los. Ein anderes Mal biss er sich selbst.

Seine Mutter, Marina P., sagt mit unbewegter Mine über ihren jüngsten Sohn: „Ich wollte Daniel nur noch weghaben. Der war für mich Ballast.“

Auf dem schwarzweißen Tisch mit Kachelimitat steht Apfelkuchen mit Sahne aus der Spraydose. „Daniel habe ich verdroschen und nicht zu wenig“, sagt die Frau und blickt in die Runde. „Wer möchte noch Kaffee?“ Wenn sie über vergangene Tage redet, wirkt es, als rede sie über ihren Sohn wie von einem lästigen Fehlkauf. Wenn es um die Gegenwart geht, wird ihre Stimme weicher: „Heute haben wir ein gutes Verhältnis.“

Damals, vor drei Jahren, als alles unausweichlich auf das Ende einer traurigen Entwicklung hinzusteuern schien und Daniel ins Heim sollte, habe sie umso häufiger das getan, was sie eigentlich schon immer getan hatte: schreien und schlagen. Daniel sollte ins Heim. Der Vater war dagegen. Eine Lösung der Probleme war nicht in Sicht. Schließlich machte das Jugendamt die Familie auf „Triangel“ aufmerksam, ein in Deutschland einmaliges Projekt. Dort lernte die Familie wieder miteinander zu reden und darüber zu reden, was passiert war.

Triangel ist ein heilpädagogischen Kinderheim des Jugendaufbauwerks in Rudow im Süden Berlins. Der Zusatz Kinderheim trügt: Denn weniger die Kinder, sondern vor allem deren Eltern werden therapiert. Wenn nötig zieht die gesamte Familie für mehrere Monate in das Haus. „Bei Triangel haben wir gelernt, uns im Gespräch auseinander zu setzen“, sagt der Vater von Daniel, Benno P. Ständig habe es sogenannte Feedback-Runden durch Betreuer und andere Eltern in ähnlicher Lebenslage gegeben. „Da wird einem freundlich, aber unmissverständlich gesagt, wie man im Alltag mit den Kindern umgeht und wann man wieder in alte Rollenmuster gefallen ist.“

Der Leiter der Tagesstätte, Michael Biene, 44, ist von Beruf Familientherapeut. Er hat das Konzept von Triangel im Laufe seines Berufslebens entwickelt. Irgendwann habe er sich die „Sinnfrage“ bei seiner Arbeit gestellt. Denn schließlich sei es so: Man arbeite mit den Kindern im Heim, komme gut voran und dann „kommen die Kinder vom Wochenende zu Hause zurück und sind wieder völlig durch den Wind“.

Mit den Kindern reden die Therapeuten deshalb kaum. „Man muss die Eltern ändern, dann ändern sich auch die Kinder“, sagt Biene eindringlich und nennt ein Beispiel. Wenn ein Kind etwas geklaut hat, reagieren die Eltern darauf meistens mit Worten wie: Das habe ich ja schon immer gewusst: Du bist ein Dieb, ein Taugenichts. Du bist nicht besser als dein Vater. Dadurch werde das Kind immer stärker in die Rolle des Diebes und Versagers hineingedrängt.

Biene versucht mit Rollenspielen dieses Verhalten der Eltern zu ändern. Sie sollen lernen zu sagen: „Du hast etwas geklaut. Das ist nicht okay. Und das weißt du. Ich gehe davon aus, dass du es wieder in Ordnung bringst.“

Früher habe er wie andere Therapeuten auch zuerst von der Theorie auf den Alltag geschlossen, berichtet Biene. „Ich habe den Leuten gestelzte Sätze gesagt, wie: Sie müssen erst mal Ihre emotionale Beziehung zu Ihrem Kind klären.“ Heute gibt er den Eltern „nur“ praktische Tipps. Lernen am Alltag heißt sein Erfolgskonzept.

Was war in der Familie P. passiert? Die Frau, die als Reinigungskraft gearbeitet hatte, bekam früh zwei Kinder. Bald verstand sich das Paar nicht mehr. Marina und Benno waren als Kinder beide von ihren Eltern geschlagen worden. Der Vater von Benno P. war ein Trinker.

„Ich möchte nicht darüber reden, was mir zu Hause passiert ist“, sagt Marina P. und sinkt auf dem Stuhl in sich zusammen. Ihre Stimme ist nicht mehr klar und kontrolliert. Die Sätze stocken. „Das Furchtbare ist, als Mutter habe ich ähnlich schlimm gehandelt, wie ich zu Hause behandelt wurde.“ Michael Biene wird später sagen, dass man als Therapeut irgendwann aufhöre, nur die Kinder zu bedauern: „Man weiß bald, dass es den Eltern ganz schlecht gehen muss, wenn sie mit ihren Kinder derart umgehen.“

Der ältere Sohn Benjamin, heute 17 Jahre alt, war der „kleine Liebling“ der Mutter. Dafür stand er auf der schwarzen Liste bei Papa. Benjamin verhielt sich nicht aggressiv, sondern entwickelte sich mit 14 Jahren zurück: „Er verhielt sich wie ein Baby“, erinnert sich die Mutter. Daniel wiederum musste für das büßen, was seine Mutter an Aggressionen gegenüber ihrem Ehemann hatte. Heute, nach der Zeit bei „Triangel“, geht die Familien vorsichtiger miteinander um. Die Eltern haben gelernt ihre Kinder nicht zu schlagen und andererseits bei Verboten konsequent zu sein. „Daniel war mein Ventil“, sagt Marina P. einsichtig. Ihr Mann schaut sie an, lächelt liebevoll und nimmt ihre Hand.