Stichwortgeber der einzigen Metropole

Die Zeitschrift „The New Yorker“ feiert ihren 75. Geburtstag. In ihr veröffentlichten zahlreiche prominente Autoren ihre ersten brillanten Stücke, Anfang der Sechzigerjahre etwa Hannah Arendt ihren Bericht über den Eichmann-Prozess. Eine Eloge auf das Renommierblatt Von Steffen Grimberg

Vermutlich müssen Betriebsunfälle so sein. Und wie immer erweist sich das Improvisierte als beständiger als manches Konstrukt. Vor allem, wenn es seit 75 Jahren an seiner eigenen Legende strickt. Ende Februar 1925 erschien in New York erstmals das Magazin, das sich fast nur mit seinem Erscheinungsort, also sich selbst beschäftigte – und dies bis heute tut: The New Yorker.

Zeitgleich mit der Metropole am Hudson wächst hier nach dem Ersten Weltkrieg ein Medium als selbstreferenzieller Spiegel einer modernen Gesellschaft heran, das Kunst, Kommunikation, Nonkommunikation und seriösen Klatsch mindestens so wichtig nimmt wie sich selbst: bis heute ein Prototyp in Vollendung. Keine andere Metropole hat dies zu Wege gebracht, nicht London, nicht Paris. Dabei ist das Geheimnis des New Yorker gerade dessen europäischer Subtext.

Seine Geschichte könnte wahrscheinlich am besten von Woody Allen erzählt werden, dessen Filmvor- und abspänne von den gleichen Art-déco-Lettern leben wie die Kolumnentitel und Schlagzeilen des Magazins. Und der prompt auch nach zwanzigjähriger Abstinenz zur Jubiläumsnummer wieder antritt – mit einem Beitrag über (natürlich!) einen Psychoanalytiker, der von einem Musiker in Naturalien, also Tönen bezahlt wird. Selbstverständlich birgt der Tausch die Katastrophe, der Titel deutet sie an: „The Earthworms of Tuscany“.

Dass diese Geschichte so auch vor 75 Jahren im Blatt hätte stehen können, spricht für die Legende – dass der New Yorker seit jenem Februar 1925 gerade einmal den fünften Chefredakteur hat, gleichfalls. (Für ein etwas differenzierteres Bild sei aber nicht verschwiegen, dass deren Halbwertszeit abnimmt und mit David Remnick bereits der dritte „Editor“ seit 1987 im Sattel sitzt.)

Begonnen hat alles mit einem schmalen Heft, das ein hemdsärmeliger Exchefredakteur einer Armeezeitung herausgab, der Nonsense hasste, Witz wollte und ein wenig Journalismus dazupackte: Harold Wallace Ross. Von ihm, dem kantigen Selfmademan, stammte die Idee zum „fifteen-cent comic paper“; das Geld gab Raoul Fleischmann, ein heute vergessener jüdischer Geschäftsmann.

In den ersten Jahren bestimmten die Zeichnungen und Cartoons, das „Artwork“, den New Yorker; bis heute legendär liest sich die Liste der Mitarbeiter (von Dorothy Parker bis James Thurber und Edmund Wilson). Zudem setzte Ross nicht auf ambitionierte Hochkultur, sondern auf das pulsierende Lebensgefühl, den „about town flair“ des New York der Zwanzigerjahre. Das neue Zauberwort hieß „sophistication“. Man war nicht naiv, sondern streetwise; blieb intellektuell anspruchsvoll, war aber gleichzeitig nicht abgehoben, sondern am Puls der Zeit: Bald war der New Yorker „the only cocktail party in town“ und sein selbstironisches Markenzeichen, der Dandy mit Monokel, überregional bekannt.

Unter der sanften, aber entschiedenen Lenkung von Katherine White kamen wenig später die ersten Kurzgeschichten ins Blatt und damit Autoren wie F. Scott Fitzgerald, Vladimir Nabokov, Truman Capote, J.D. Salinger – noch eine legendäre Liste. Bis heute ist dieses Genre unter der schlichten Überschrift „Fiction“ präsent, auch wenn es in der kurzen Ära Tina Browns von den vorderen Plätzen des Magazins verbannt wurde.

Natürlich wird der New Yorker auch ständig überschätzt. Er hat das literarisch-journalistische Monatsmagazin weder vorweggenommen noch ersetzt: Schon 1923 versammelte die weitaus ältere Vanity Fair in einer Ausgabe T. S. Eliot, Gertrude Stein, Aldous Huxley und Djuna Barnes. Doch der New Yorker gefällt sich in der Rolle des Blattes, dessen Innenleben schon immer eine mehr als besondere Aufmerksamkeit genoss – von Neidern wie Bewunderern.

Mit der steigenden Zahl prominenter oder zu entdeckender Autoren wuchs die Bedeutung des New Yorker weiter, geführt von Ross, der nie auch nur ein Wort für sein Magazin schrieb, dafür aber um so mehr kryptische Hausmitteilungen und Notizen („We like your stuff, God knows, but this verse, damn it, is obscure“) an Redakteure und Mitarbeiter.

Viele der regelmäßigen New Yorker-Rubriken sind schon gleich mit Ross entstanden: „Goings on about Town“, der höchst wählerische Veranstaltungskalender, bei dem aller „sophistication“ zum Trotz das Kino an letzter Stelle steht. Oder die „Letters from ...“, kurzweilige Betrachtungen aus London, Paris, Florenz oder anderswo, bis heute mit dem erstaunten Blick des noch jungen Amerika auf die Alte Welt. Und natürlich „The Talk of the Town“, die Selbstbeschau der Metropole New York, genauer gesagt: ihres Herzstücks, Manhattan.

Auch wenn man kein New Yorker im Sinne eines Wohnorts in Manhattan ist, man fühlt sich stets zugehörig: Bei Anthony Lanes jüngstem „Letter from London“ zum Beispiel, einem herzzerreißend peniblen Lamento über eine Karaokeversion des Musicals „The Sound of Music“. Oder im „Talk of the Town“, wo wir wieder Woody Allen begegnen, der einen Videoclip – „you might call this new effort (his) first propaganda project“ – gegen ein ökofeindliches Bauvorhaben gedreht hat. Ehrenwert, denn der geplante siebzehnstöckige Wolkenkratzer zerstört zwar einerseits wohl wirklich die „streetscape“ von Carnegie Hill, aber andererseits gerät dadurch auch „Allen’s garden into shadow“.

Noch ein Höhepunkt im letzten normalen Heft vor der dreihundertseitigen Jubelausgabe: Art Spiegelmans Hommage an Charles M. Schulz, den eben verstorben „Peanuts“-Vater („Abstract thought is a warm puppy“), der auch viel Grundsätzliches über den New Yorker verrät. Es geht um entfremdete Kultur in der jüdischen Diaspora, um Freud, Kafka und entwurzelten Kosmopolitismus. Nicht todernst, sondern durchaus selbstironisch. Der New Yorker bleibt so Obdach der Heimatlosen, mit für die USA unverschämtem und so wohl nur an der Ostküste verstandenem – oder zumindest toleriertem Hang zu Europa.

Zum 75. Geburtstag erfreut sich die Legende bester Gesundheit, auch wenn das Blatt trotz Rekordauflage von rund achthunderttausend Exemplaren wöchentlich massive Verluste für seinen obersten Verleger Samuel Irving, genannt „Si“, Newhouse einfährt. Newhouse, Chef des Medienkonzerns Advance Publications, hatte den damals angeschlagenen New Yorker 1986 gekauft, und bis heute gärt die Debatte, ob er damit das Magazin gerettet oder erst recht zugrunde gerichtet hat. Denn nur ein Jahr nach dieser Übernahme dankte Ross’ mindestens ebenso legendärer Nachfolger William Shawn unter wenig glamourösen Umständen ab.

Ausgerechnet der Chefredakteur, der seit Ross’ Tod 1959 über ein Vierteljahrhundert den New Yorker auch zum journalistischen Glanzstück ausbaute – Hannah Arendts Essays über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, Beiträge von James Baldwin, Jonathan Schell zu Vietnam und Watergate –, ausgerechnet dieser Chefredakteur wurde 1987 durch einen eher farblosen Übergangskandidaten ersetzt.

Natürlich hatte auch Shawn, der „poet with a pencil“, Feinde. Ein Kontrollfreak soll er gewesen sein, der alle Beiträge durch ein kafkaeskes System inhaltlicher Überprüfung jagte und Redakteure wie Autoren in den Wahnsinn trieb. Shawn, sagt Ben Yoagoda in seiner Biografie des New Yorker, organisierte die Redaktionsgeschäfte „in der gleichen Weise, wie das die algerischen Terroristen in der Schlacht von Algier getan hatten: Keiner kannte den anderen oder wusste auch nur, was dieser gerade tat“.

Auf der Strecke blieben so Journalisten wie Joseph Mitchell, der über dreißig Jahre nichts mehr im Blatt unterbringen konnte, experimentelle Prosa und Lyrik und die ganze Schule des „New Journalism“ der Siebziger- und Achtzigerjahre: Auch Philip Roth schreibt erst wieder in der Nach-Shawn-Ära im New Yorker. Und Tom Wolfe („Fegefeuer der Eitelkeiten“) anvancierte zum Lieblingsfeind: Im konkurrierenden, aber nie an den New Yorker heranreichenden New York Magazine zog er mit dem beißenden Spott des verletzten Dandys über Shawn her.

Das wahre Ende kam für viele altgediente „Staffer“ 1993: Newhouse bestellte als neuen „Editor“ zum ersten Mal eine Frau, eine Engländerin – und dann auch noch ausgerechnet die erfolgreich-selbstverliebte Chefredakteurin seines Glamourtitels Vanity Fair: Tina Brown.

Ganz und gar erbarmungslos hat „Queen Tina“ eine neue Linie durchgedrückt, die Kurzgeschichten resolut in das letzte Blattdrittel abgeschoben, die Zahl der Gedichte verringert. Wirklich verdorben hat sie den New Yorker nicht und seinen elitären Egalitarismus wohl auch nie ernsthaft bedroht. Es wäre zu simpel, Brown als Krawallschachtel – wenn auch respektvoll – zu charakterisieren, auch weil ihre provokante Zuspitzung der redaktionellen Linie dem Magazin Auflagensteigerungen um über 150.000 Exemplare bescherte, von denen heute ihr Nachfolger David Remnick zehrt.

Seit Browns spektakulärem Abgang im Sommer 1998 – sie ist jetzt Chefredakteurin der nicht sonderlich erfolgreichen Disney-Hearst-Neugründung Talk – ist Ruhe am Times Square eingekehrt. Doch auch Remnick gilt vielen wieder nur als Übergangskandidat.

Der New Yorker bleibt so im Fluss, mal im Takt mit der Stadt, die ihn ausmacht, mal gegen sie. Und bei aller Bewegung lässt sich nur eine Konstante mit Sicherheit festmachen: Er ist einzigartig, und er bleibt es wohl auch.

Steffen Grimberg, 32, seit Anfang des Jahres taz-Medienredakteur in Berlin, bevorzugt als Lektüre den Observer – schon der Kochseiten von Nigel Slater wegen