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: Hamburger Hausbesetzerschule

Erst kommt der Sex, dann die Politik: Michael Wildenhains „Die kalte Haut der Stadt“

Vor dem Boom war auch schon Boom: Wir stellen in unregelmäßiger Reihenfolge ältere Berlin-Romane vor.

„Chronist der Bewegung“ ist Michael Wildenhain genannt worden, immer wieder. Dabei ist es nur sein Buch „Die kalte Haut der Stadt“, in dem er die Stationen der autonomen Linken in den Kapiteln wie an Fingern abzählt: Häuserkampf, Anti-Atom, Kriminalisierung der Szene-Fanzine radikal, Streik an den Unis und so weiter. Als das Buch 1991 erschien, brach es ein Tabu und erfüllte gleichzeitig den sehnlichen Wunsch einer ganzen Generation von Straßenkämpferinnen und -kämpfern: Dass ihre Erlebnisse endlich wie die der geistigen Eltern, der 68er, literarisiert werden mögen.

Bei uns in Hamburg war das ganze Schanzenviertel – in etwa das hanseatische Pendant zum revolutionären Kreuzberg – hingerissen von solcher kultureller Aufwertung: So wild und gefährlich, die Berliner, und so gefühlig dabei! „Die kalte Haut der Stadt“ wurde zu Geburtstagen verschenkt, als sei der Schinken das Paradekissen einer autonomen Aussteuer. Immerhin hatten wir eine ebenfalls wilde und gefährliche, letztlich leider als Immobilie in Besetzerhände übergewechselte Hafenstraße vorzuweisen und mit der Roten Flora ein astrein illegales Zentrum, das unter der rot-grünen Regierung allerdings zum Maskottchen der Bürgerschaft geriet. In Wirklichkeit war Hamburg, soll das heißen, schon immer zu liberal, um wirklich militant auffallen zu können; man verlegte sich daher auf Diskurs-Pop und Theorie, High-Brow-Autonomie sozusagen.

Wie fleischig dagegen der Wildenhain und wie düster dazu! Ein Berliner konnte berichten, wogegen zu kämpfen war, in Berlin, so waren wir überzeugt, zeigte das System seine hässliche Fratze weit offener als zwischen Alster und Elbe. Bestanden in Hamburg auch die nach außen schwärzesten Demos noch im Kern aus amüsierten Gymnasiasten – in Berlin ging es ums Ganze, um Leib und Leben. Hier verwob sich die Gewalttätigkeit der Stadt aufs Dichteste mit der der Staatsmacht. Klar, so war das mit der Unmenschlichkeit des Staates, unsere Waffe dagegen die Menschlichkeit! Die Kreuz- und Schöneberger Straßen, überbaut vom eisernen Monstrum der U-Bahn, waren bei Wildenhain der Schauplatz eines dauernden Gemetzels: Unter den willkürlichen Hieben einer gesichtslosen Polizei brachen zarte Mädchenhände, platzte die Haut freisinniger Teenager auf, wurden eben noch schmusende Pärchen zusammengeschlagen.

Übrigens ist dies das eigentliche Thema der „Kalten Haut der Stadt“ und auch der anderen Bücher des Bewegungschronisten Wildenhain: Wer glaubt, ohne autonome Vorbildung auch nur einen der politischen Konflikte als Historiendrama noch einmal langsam und für Blöde erzählt zu bekommen, hat sich geschnitten. Denn eigentlich erzählt Wildenhain von Jochen, dem scheuen Eigenbrötler, von Manuela, die sich so schlecht für einen Mann entscheiden kann, und Vera, die den Fötus abtreiben lässt. Und Erichs Kummer mit seinen großen Pickeln.

Wichtiger als jeder Straßenkampf sind bei Wildenhain die Geschichten vom Wer-mit-wem. Insofern hat er er erst in seinem jüngsten Roman, „Erste Liebe Deutscher Herbst“ (1997), sein Thema schon im Titel getroffen: Erst kommt der Sex, dann die Politik. Hamburger Gymnasiasten hatten das eigentlich schon immer gewusst.Ulrike Winkelmann

Michael Wildenhain: „Die kalte Haut der Stadt“. Fischer TB, Frankfurt am Main 1995. 523 S., 19,90 DM