Unsere mimetische Existenz

■ Der Neurophysiologe und Oliver-Sacks-Schüler Jonathan Cole beschreibt die Bedeutung und die Geschichte des menschlichen Gesichts. Tragisch wird es, wenn man es verliert

Bevor sie krank wurde, war Mary eine lebhafte und recht aktive Frau gewesen. Nun war alles anders. Von den normalen, lebhaften und temperamentvollen Gesichtsbewegungen war kaum etwas geblieben.

Eine vollständige Lähmung ihres Gesichts hatte ihre mimische Ausdrucksfähigkeit für immer zum Schweigen gebracht. Schleichend hatte die Krankheit Besitz von ihr ergriffen. Heftige Schluckbeschwerden und Sprachverlust erschienen ihr selbst nur als Marginalien. Die eigentliche Tragik ihres Schicksals bestand darin, dass sie die Fähigkeit verloren hatte, mit ihrem und durch das Gesicht anderer Menschen Fühlung aufzunehmen, eine Beziehung herzustellen. Diese Unfähigkeit beraubte sie in ihren eigenen Augen ihres Charakters und ihrer Persönlichkeit. Einsam und isoliert, wollte sie am Ende nur noch sterben, was sie bald darauf auch tat. Fraglos eine traurige Geschichte.

Der sie erzählt, heißt Jonathan Cole, ist ein Freund und Schüler von Oliver Sacks und wie dieser Neurophysiologe. Er lehrt an der Universität Southampton. Die Begegnung mit der „gesichtslosen“ Mary war zwar zufällig, doch für Cole trennte ihre Krankheit „eine Naht zwischen Gesicht und Selbst“ auf, von deren Existenz er nie etwas geahnt hatte. In der darauf folgenden Zeit schrieb er ein Buch, das jetzt in seiner deutschen Übersetzung vorliegt und den Titel „Über das Gesicht“ trägt.

Die Medizin schweigt im Allgemeinen von der Mimik, von dieser emotionalen Sprache des Gesichts. So nähert sich Cole über das Studium psychologischer Einsichten, über Arbeiten aus der Soziologie, Philosophie und der Verhaltensforschung dem menschlichen Mienenspiel. Diese Linie, die Cole in seinem Buch nachzeichnet, speist sich interdisziplinär aus ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Quellen und beschreibt eine Naturgeschichte und Theorie des Gesichts, aber auch eine der Gefühle und anderer geistiger Phänomene.

So skizziert er beispielshalber in einer die Einbildungskraft erstaunlich affizierenden Weise die Evolution des Gesichts von seinem Ursprung als Träger der Sinnesorgane und als Körperöffnung zum Verdauungstrakt bei den Amphibien über die „äußerst beweglichen und ausdrucksvollen Gesichter der Primaten“ bis hin zum Menschen. Plastisch beschreibt er, wie sich die bloßen „Eingänge“ der Amphibien im Verlaufe der Evolution in die Münder der Säugetiere verwandelten, da das Zerkauen von Nahrung Lippen und Wangen erforderte.

Im Laufe der Zeit gewann bei den höher entwickelten Hominiden mimisches Ausdrucksverhalten gegenüber der Schaffung eines Gefühlsausdrucks durch bloße Körperhaltung zunehmend an Bedeutung. Die komplexe Mimik des Menschen schließlich, verkörpert im Spiel der unzähligen Muskeln im Augen- und Mundbereich, wurde zu einem Zeichensystem sui generis.

Dieses Zeichensystem nach seiner tieferen Bedeutung zu hinterfragen, betrachtet Cole als seine eigentliche Aufgabe. Da die üblichen wissenschaftlichen Methoden ihren Blick aber nur auf die Oberfläche der Phänomene gerichtet hätten und Antworten auf die Frage, ob und inwiefern „unser Wesen vom Gesicht bestimmt wird“, weitgehend schuldig blieben, bezieht er sich im Folgenden – darin methodologisch inspiriert von der Psychoanalyse – auf die Erfahrungsgeschichten von Menschen, die Probleme mit dem eigenen oder dem Gesicht anderer haben. Gerade der Blick auf die Differenz, auf das Anderssein soll so einen Beitrag zur Bedeutungstheorie des Gesichts leisten, in dem er Selbstverständliches und somit Unsichtbares erstmals sichtbar werden lässt.

Während Blinde in der Stimme ein „Zuhause“ finden, da ihnen das Gesicht des anderen zu lesen verschlossen ist, haben Autisten unerträgliche Schwierigkeiten mit der verwirrenden Vielschichtigkeit des Gesichts eines anderen. Der Blick in ein fremdes Gesicht ist ihnen kaum möglich. Das Gesicht von Menschen hingegen, die an der seltenen Möbius-Krankheit leiden, ist unbeweglich und starr, unbeweglicher noch als die nahezu durchsichtigen Gesichter der an der Parkinson-Krankheit Leidenden. Die Lebensgeschichten derer, die dergestalt „ihr Gesicht verloren haben“, schildert Cole mit einem großartigen Gespür für die Tragik ihrer Situation.

Das Feedback auf unsere im Gesicht verkörperten Gefühle, das zeigen die Geschichten der Betroffenen ex negativo, ist für unsere soziale Existenz und Selbstachtung von geradezu existenzieller Bedeutung. Ihre ungewöhnlichen Mienen, so Cole, verhinderten jede Spiegelung im Gesichtsausdruck des anderen, beförderten letztendlich Isolation und Entfremdung. Auf originelle und recht untheoretische Weise leistet Cole einen innovativen und spannenden Beitrag zur Bedeutungsgeschichte des Gesichts.Michael Saager

Jonathan Cole „Über das Gesicht. Naturgeschichte des Gesichts und unnatürliche Geschichte derer, die es verloren haben“. Verlag Antje Kunstmann; München 1999, 300 S. mit Abb.; 39,80 DM