Widerstandsheld oder unfreiwilliger Erfüllungsgehilfe?

In den Niederlanden gilt der Anarchist Marinus van der Lubbe als erster Widerstandskämpfer gegen Hitler. Doch Historiker bezweifeln die These vom Einzeltäter. Auch eine Urheberschaft der Nazis ist nicht bewiesen

War er der erste Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, der seinen politischen Gegnern nur einen willkommenen Anlass bot, um die demokratischen Institutionen endgültig auszuschalten? Oder war der niederländische Anarchist Marinus van der Lubbe nur ein Strohmann der Nazis, die den Anschlag auf das Parlamentsgebäude längst geplant hatten?

Nach 67 Jahren sind die Umstände des Reichstagsbrands unklarer denn je. Nur eines scheint sicher zu sein: Die kommunistischen Hintermänner, denen die NS-Propaganda die Brandstiftung in die Schuhe schob, gab es nicht. Der Prozess vor dem Leipziger Reichsgericht endete für das Regime mit einer Schlappe: Zwar wurde van der Lubbe am 10. Januar 1934 im Alter von 25 Jahren hingerichtet, doch sprach das Gericht die drei kommunistischen Mitangeklagten frei – darunter den späteren Chef der bulgarischen Kommunisten, Georgi Dimitroff.

Allerdings kamen die Sachverständigen zu dem Ergebnis, dass van der Lubbe das Gebäude unmöglich allein in Brand gesteckt haben konnte. Der Verdacht lag nahe, dass die Polizei Hinweise auf eine Mittäterschaft der Nationalsozialisten ignoriert haben könnte. Als ein willenloses Werkzeug in deren Händen stellten die Kommunisten den „Wirrkopf“ van der Lubbe in einem alsbald herausgebrachten Braunbuch dar.

Nach Kriegsende allerdings setzte sich in der Bundesrepublik schnell die These von einer Alleintäterschaft des Niederländers durch. In einer umfänglichen Spiegel-Serie suchte der Autor Fritz Tobias 1959/60 alle Hinweise auf Mittäter zu entkräften. Wenig später verlieh der Historiker Hans Mommsen dieser Argumentation die wissenschaftlichen Weihen. Demnach hatten die Nazis den Reichstagsbrand nicht vorbereitet, sondern lediglich propagandistisch ausgenutzt. Diese Erkenntnis fügte sich trefflich in Mommsens Interpretation, die Geschichte des Nationalsozialismus sei stark von improvisierten Entscheidungsprozessen geprägt.

Erst in den letzten Jahren kam wieder Bewegung in die Debatte. Nach der Wiedervereinigung standen die zuerst in Moskau, dann in der DDR gelagerten Prozessakten erstmals vollständig als Quelle zur Verfügung. Nach Ansicht des Historikers Alexander Bahar sowie des Physikers und Psychologen Wilfried Kugel liefern diese Dokumente eindeutige Hinweise darauf, dass van der Lubbe nicht der alleinige Täter gewesen sein könne. Mittlerweile haben Bahar und Kugel ihre Ergebnisse, die sie schon vor zwei Jahren in der taz veröffentlicht hatten, gemeinsam mit dem Historiker Jürgen Schmädeke auch in dem führenden Fachblatt Historische Zeitschrift veröffentlicht.

Ob die möglichen Mittäter in den Reihen der Nationalsozialisten zu suchen sind, ist damit aber noch nicht gesagt. So betont der Soziologe Hersch Fischler, die deutschnationalen Bündnispartner der NSDAP hätten ein größeres Interesse an der Ausschaltung des Parlaments gehabt als die Nazis selbst: „Man muss prüfen, ob die Brandstifter nicht aus diesen Kreisen kamen und sich nur der Person van der Lubbe bedienten.“

In den Niederlanden gelten solche Thesen als Attacken „gegen unseren ersten Widerstandskämpfer“, wie es van der Lubbes Biograf Martin Schouten formuliert: „Er gehört in eine Reihe mit Elser und Stauffenberg.“

Immer mehr Geschichtswissenschaftler plädieren jetzt dafür, den Streit um den Reichstagsbrand zumindest wieder als offen zu betrachten – und ihn vom Ballast der geschichtspolitischen Kontroversen des vergangenen Jahrhunderts zu befreien. Ralph Bollmann