Stochern im großen Familiendreck

■ Das Bremer Theater setzt jetzt auch auf die jungen HeldInnen der „New british arts“. Mit großem Erfolg hat Marlon Metzen die deutsche Erstaufführung des Stückes „Engel der Tankstelle“ von Edward Thomas im Schauspielhaus inszeniert

Gott hat die Biege gemacht. So haben die Elfen im südwalisischen Nirgendwo die Herrschaft übernommen. In geheimnisvollem Elfisch lassen sie Häuser ins Meer stürzen oder Ertrunkene wieder auferstehen. Sie gehorchen keinem Gesetz, sind da/nicht da und also wie das Leben selbst mit seinen so genannten Schicksalsschlägen, die böse Menschen verschonen und gute strafen oder umgekehrt. Und Edward Thomas ist der jeistige Chef von's Janze: Als Autor des Stückes „Engel der Tankstelle“ lässt er jetzt im Bremer Schauspielhaus sozusagen die Elfen tanzen. Und dieser Tanz ist jung, rasant und in seiner Sprache alles andere als stubenrein.

Der Autor, Schauspieler, Theater- und Filmregisseur Edward Thomas ist einer dieser hippen Stückeschreiber. Unter den vielen Kreativen der new british arts repräsentiert er sozusagen das Europa der Regionen und würzt den mit allem Mut zur Hässlichkeit ausgestatteten künstlerischen Output der britischen Inseln mit einer walisischen Komponente. „Das vom Fremdenverkehrsamt propagierte Wales-Bild mit seinen Flüssen, Bergen und Druiden ist verschwunden“, sagt der trotz seiner fast 40 Lebensjahre als Jung-Dramatiker bezeichnete Ed Thomas. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, seine „Engel der Tankstelle“ mit einer ganzen Menge vor- und un-christlicher Mystik aufzuladen.

Der 1961 geborene Autor schreibt seine Stücke eigentlich für seine eigene Theatergruppe „Fiction Factory“. Doch mehr und mehr tauchen sie auch in den Theaterspielplänen anderer europäischer Länder und Kanadas auf. In Montreal, Berlin und Barcelona wurde Thomas gespielt. Das Schauspiel Bochum zeigt seit Januar „Lied auf eine vergessene Stadt“. Und Bremen zieht jetzt mit der deutschsprachigen Erstaufführung der „Engel der Tankstelle“ nach.

„Es ist eine kaleidoskopartige Geschichte zwischen einem (jungen) Mann, dessen Haus ins Meer gestürzt ist, und einem Mädchen, dessen Bruder vermisst wird“, fasst der Waliser den Inhalt seines Stückes zusammen. Am Ende wird ein Mord geschehen sein, wäre da noch hinzuzufügen, wenn es denn wichtig wäre. Ist es aber nicht, jedenfalls nicht sonderlich, denn „Engel der Tankstelle“ lebt nicht vom Plot, sondern von den Identitätssplittern, aus denen Edward Thomas seine Figuren zusammensetzt.

Den Satz „Very dark, very strange, very welsh“ sagt jemand im Stück über das Stück. Oder irgendjemand anders sagt diesen Satz über das Stück, und Marlon Metzen, der Hausregisseur in Mannheim und Einüber der Bremer Inszenierung, hat ihn einfach ins Stück eingebaut. Sehr dunkel, sehr seltsam, aber alles andere als fremd erzählt Thomas in Short Cuts aus jugendlicher Perspektive existenzielle Lebenserfahrungen (Beinahe-Ertrinken von Bruder und Mutter, Verschwinden des anderen Bruders sowie – freilich – Liebessehnsucht, Drogen- und Sexräusche). Dazu addiert und persifliert er Genreszenen aus der Provinz, wie sie aus Ken Loachs und anderen Filmen des new british cinema vertraut sind (Wer auswandert, wird beneidet und zugleich gehasst; Vater geht immer in den Pub; Eltern fetzen sich in aller Derbheit; ein Unbekannter schlägt alle Schafe tot). Und dazu gesellt er – very welsh? – den besagten Mystizismus. Salopp gesagt ist „Engel der Tankstelle“ eine verelfte Mischung aus „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Trainspotting“-light. Diese Mischung hat vielleicht das Zeug für gründlich-tiefschürfende Inszenierungen, die auch schildern, was in den Handelnden vor sich geht. In einem kargen Hallenraum mit Leinwand im Cinemascope-Format im Hintergrund (Bühne: Hanna Zimmermann) setzt Marlon Metzen aber auf eine andere, keinesfalls schlechtere Variante.

Von Anfang an drückt der Regisseur aufs Tempo. Zunächst von der Rampe aus, später auch im ganzen Bühnenraum serviert das achtköpfige Ensemble das Stück wie eine Show: Anika Mauer und Christian Schmidt als Hauptfiguren und ModeratorInnen Bron und Ace sprechen das Publikum direkt an und verwickeln es sogar ins Geschehen. Jung, frech und sexy führt dieses Duo durch das Stationendrama aus Rück- und Seit- und Vorausblenden. Lichtwechsel markieren – wie in den wenigen Regieanweisungen empfohlen – die Szenenwechsel, in denen ein durch die Bank gut aufgelegtes Ensemble very dark, very strange and very welsh einen ganzen Haufen von Kabinettstückchen der Figurencharakterisierung entfalten darf.

Marlon Metzen hat seine Typenparade so fein austariert, dass sonst oft deplatziert wirkende Auflüge in den Schlager-Trash und die Kunstlied-Verulkung zum Geschehen passen. So ist „Engel der Tankstelle“ ein Ulk mit Hintersinn oder eine jugendfrische Tragikomödie über Hoffnungslosigkeit und Sehnsüchte. Und ganz nebenbei machen das Stück und diese am Ende stürmisch vom Premierenpublikum gefeierte Inszenierung klar, warum die new british arts auch im Theater so erfolgreich sind: Diese Stücke (Filme und so weiter) stochern im Dreck und zerren die Kaputtheit familiärer und gesellschaftlicher Verhältnisse ans Tageslicht. Doch – nicht nur – Edward Thomas hat bei allem ein Herz für seine Figuren und ihre Skurrilitäten. Das macht sie vielleicht dark, aber not strange und so lange eher very british als welsh, bis auch hier zu Lande mal jemand kommt und ähnliche Stücke schreibt. Christoph Köster

4., 15., 24. März, 20 Uhr, Schauspielhaus. Karten: 365 33 33