Die Suche nach dem verlorenen Ton

Es gibt sie tatsächlich, eine Literatur unterhalb der Benutzeroberflächen Golf und Nutella: David Wagners Debüt „Meine nachtblaue Hose“ ist ein eleganter und feinsinniger Erinnerungsroman. Ein Porträt ■ Von Gerrit Bartels

Es ist Dienstagabend, zehn nach sechs, und David Wagner hat sich noch nicht eingefunden zum verabredeten Treffen im Café Ici in der Auguststraße. Als er kommt, entschuldigt er sich mit den Worten, er sei zu früh gekommen und hätte sich dann lieber nach nebenan ins Hackbarth’s gesetzt, um dort die taz zu lesen: „Das Interview mit Matthias Politycki, ich musste mich ja vorbereiten.“

Das meint er natürlich nicht ganz ernst, trotzdem gesteht Wagner auch gleich, sich gewundert, ja gar ein wenig geärgert zu haben. Darüber, dass Politycki im Hinblick auf den Erfolg gerade vieler jüngerer Autoren von „neuer deutscher Plattheit“ und „Spartenliteratur für Teenager“ spricht und den so genannten Popliteraten ernsthafte Schriftstelleransätze abspricht: „Ihm gefällt wohl nicht, dass er und die Autoren aus seiner Generation so lange im Verborgenen schreiben mussten, während jüngere Autoren eine große Resonanz gleich auf ihre ersten Bücher bekommen.“

Um diese Resonanz muss sich sicher auch David Wagner in nächster Zeit keine Sorge machen. Noch keine dreißig Jahre alt, hat er dieser Tage seinen Debütroman „Meine nachtblaue Hose“ veröffentlicht. In diesem geht es um die Liebesbeziehung eines Berliner Jurastudenten und dessen Kindheit und Jugend im Rheinland. Nimmt man dazu noch die Tatsache, dass Wagner fester Mitarbeiter bei den Berliner Seiten der FAZ ist, könnte man in der Tat leicht auf den Gedanken kommen, dass er mit seinem Roman einfach einem Trend folgt und die gute Stimmung bei Verlagen und Publikum nutzt. Er ist jung, er ist Journalist, er kann schreiben – und warum nicht auch gleich einen ganzen Roman?

Doch mit David Wagner verhält es sich in vieler Hinsicht anders. Er ist ein höflicher, fast ein wenig schüchterner Gesprächspartner, dem jegliches Inszenieren der eigenen Person fremd ist. Allein, wenn er seinen Werdegang erzählt, merkt man, wie ernst es ihm mit dem Schreiben ist. Wagner erzählt, dass er früher in der Pubertät heimlich sehr viel geschrieben habe, und „es war nun auch nicht so, dass ich mich nach meinen ersten Zeitungstexten da hingesetzt und mir vorgenommen habe: ich schreib jetzt ein Buch. Das hat einige Jahre gedauert.“

Auch „Meine nachtblaue Hose“ hat seine Zeit gebraucht, von Dezember 1996 bis August 1999, wie Wagner das den Lesern seines Buches nach dem letzten Satz noch in Klammern mitteilt: „Es hat gedauert, bis ich es mir technisch zugetraut habe. Mit einem durchgängigen Ton und einem Bogen. Vor allem auf den Ton musste ich warten.“ Mit Erfolg: Denn „Meine nachtblaue Hose“ ist ein eleganter und feinsinniger Erinnerungsroman geworden. Ein sehr poetisches Buch und auch ein sehr reif wirkendes, das formal und stilistisch genauso gut sitzt wie die nachtblaue Hose des Ich-Erzählers.

Geschickt wandert Wagner auf mehreren Zeitebenen, immer wieder lässt er seinen Helden – der mal in einer Umkleidekabine sitzt, mal auf einem Klo, mal in einem Restaurant – in die eigene Vergangenheit und die seiner Eltern und Großeltern abtauchen und Gedanken ausprechen wie: „Wahrscheinlich wünschte ich mir solch einen Faden auch für mein eigenes Leben, einen Faden, mit dem sich jede Laminierung, Familienverhältnisse, Fasermatten, Syntax und Wortverklebung würde lösen lassen.“ Doch immer holt Wagner ihn da auch wieder heraus und lässt ihn erzählen, was ihm im Berlin der frühen Neunziger alles widerfährt und sich Gegenwart und Vergangenheit miteinander verknäueln.

Wagner selbst allerdings tut sich ein bisschen schwer damit, für sein Buch und seinem Helden die passenden Worte zu finden. Da ringt er oft nach den richtigen Aussagen, da verstolpert er auch mal ein Wort wie „Amalgamisierung“, und da sagt er natürlich auch, dass sein Held und er nur wenig miteinander zu tun haben. Immerhin gibt er zu, sich in den „Innenräumen“, die er beschreibt, sehr gut auszukennen, Parallelen zur eigenen Biografie ließen sich halt nicht vermeiden: Auch Wagner kommt aus dem Rheinland, auch er ist Anfang der Neunziger nach Berlin gekommen, „weil es so weit weg wie nur möglich war. Mittlerweile finde ich es fast beängstigend, wie nahe Köln mit dem ICE wieder herangerückt ist.“

Doch eigentlich findet er auch, dass „es ein sehr unsympatischer Typ ist, den ich da beschrieben habe. Er steht im Bann dieser Elternwelt, die so liberal ist, dass er sich gar nicht gegen sie wehren kann.“ Ein armes Bürschchen eben, am Ende gar ein typischer Vetreter seiner Generation?

Wenn Wagners Held beklagt, nie das Bedürfnis gehabt zu haben, „für etwas oder gegen etwas mitzumarschieren“, wenn er fragt: „Wo muss man sein, um dabei zu sein, wie kommt man aus einer Vergangenheit heraus, aus dem Kokon von Kunststoffkindheit, Nutellakindern, Niveatöchtern?“, dann ist das jedenfalls nachhaltiger als alles, was man sonst aus und über diese Generation gehört hat. Wagner geht es nicht um Attitüden und cooles Gebaren, er hält sich nicht mit schicken Benutzeroberflächen wie Golf, Nutella oder 1999 auf, sondern er schürft tiefer, dort wo die Vergangenheit ihre Spuren, Deformationen und Traumatisierungen hinterlassen hat. Und trotzdem richtet man sich gern ein in diesem Buch, trotzdem fühlt man sich aufgehoben.

„Was heute ziemlich oft vergessen wird, ist ein Stil und einen gewissen Ton, eine Stimme zu finden“, sagt Wagner dann noch ein zweites Mal. Er hat dann aber später nichts dagegen, mit auf die „Mai 3 D“-Lesung von Alexa Hennig von Lange, Daniel Haaksman und Till Müller-Klug zu gehen. Das interessiert ihn, da ist er solidarisch, da kann der Politycki doch sagen, was er will.David Wagner: „Meine nachtblaue Hose“. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 186 Seiten, 28 DM