Nach den Wahlen in Schleswig-Holstein kennen die Politiker keine Krisen und keine Verlierer. Verloren hat aber die Demokratie
: Stabilisierende Stabilität des Stabilen

Parteitags-„demokratie“ hat mit Regie alles und mit Demokratie nichts zu tun

Im Wahlkampf spielte Landespolitik fast keine Rolle, „die Fehler im Finanzgebaren der CDU“ (Angela Merkel) eine mittlere und die Hüte der Frau Simonis dank der Kampagne des FDP-Riesenstaatsmannes Kubicki eine große. Der Rest drehte sich darum, ob der Nationalpark Wattenmeer zu groß, zu klein oder gerade richtig dimensioniert und ob der grüne Umweltminister zu spät, zu früh oder gerade rechtzeitig nach Amrum gekommen sei, um den brennenden Frachter anzusehen und den sterbenden Vögeln seine Solidarität und Anteilnahme zu erweisen. Solche Pseudopolitik beflügelt die Zentralen der Parteipolitik und des Parteienstaates und macht den Wahlsiegerinnen und -siegern richtig Freude. Aber wem sonst?

Die wahlberechtigten Schleswig-Holsteiner waren nicht zu beneiden. Wen sollten sie wählen in diesen herrlichen Zeiten, in denen sich die großen Parteien vor allem dadurch unterscheiden, wie tief sie bereits im Sumpf stecken? Und wofür stehen die kleineren Parteien denn – außer für die Mehrheitsbeschaffung? Und genau dazu lieh die SPD reichlich Zweitstimmen an die Grünen aus, während der ehrenwerte Ehrenvorsitzende Lambsdorff die FDP als „neuen“ Koalitionspartner der SPD ins Gespräch brachte. Oder sollten sich die Wähler einfach mit dem gemütlichen Bescheid jener zeitgeistigen Entwarner abfinden, die meinen, so richtig demokratisch und vital sei eine Demokratie allemal erst, wenn Schwarzgelder, Schmiergelder, Schweizer Konten und dergleichen endlich zur Normalität gehörten und den Betrieb ölten?

Der Parteipolitik steht das Wasser bis zum Hals, die journalistischen Apostel der Normalität und die Wissenschaft holen sich Marktgängiges von der Festplatte – und alle drei zusammen beschönigen und verharmlosen die Krise von Parteien und Parteienstaat. Ihr alles übergreifendes Hauptstichwort am Wahlabend und in den Kommentaren am folgenden Tag war „Stabilität“. Sie kennen keine Krisen mehr, sondern entdecken überall Stabilisierung, Stabilität und Stabiles.

Volker Rühe sah seine „Wählerschaft stabilisiert“; für Roland Koch „hat sich Rühe stabilisiert“ mit seinen Ansprüchen in der CDU; Angela Merkel blickt auf „eine stabile Basis“ und will jetzt „in die Basis hineinhorchen“, um ihrerseits Ansprüche zu begründen; Thomas Goppel von der CSU hat mit der 35-Prozent-CDU „wieder einen stabilen Partner“; Franz Müntefering freut sich über „die Stabilität, die wir gefunden haben“; den grünen Umweltminister Rainder Steenblock „stabilisiert das Ergebnis“ der Wahl, das die Grünen ohne die SPD-Zweitstimmen auf 2,5 Prozent hinuntergedrückt hätte. Die akademische Salbung der rundum herrschenden Stabilität besorgten Jürgen Falter und Claus Leggewie mit ihren ebenso trostreichen wie regierungsfreundlichen Bescheiden: „Normalität hergestellt“ und „Parteiensystem stabil“ – und das Wahlergebnis im Theorienebel verpackt.

Praktische Politik demonstrierte dagegen Guido Westerwelle durch sich selbst und den Hinweis auf die FDP als „drittstärkste Partei“. Da vergaß er einfach jene Partei, die fast so stark wurde wie die CDU – die „Partei“ der Nichtwähler: Diese war einmal mehr vorn beim „Zulegen“, wie es im Jargon heißt – und zwar mit fast so viel, wie die SPD skandalbedingt geerbt hat. Aber darüber wird unter Berufspolitikern erst gar nicht geredet, weil 30,5 Prozent Nichtwähler parteienstaatsmäßig leichter zu verdauen sind als 5,1 Prozent DVU-Wähler. Nichtwähler haben eine quantitativ schwer messbare, aber in ihrem harten Kern sehr politische Antwort auf den politischen Betrieb, weil sie damit auch ausdrücken, dass sie die Rundumvereinahmung des Staates und seiner Institutionen durch die Parteien nicht mitmachen wollen. Die Krise, in der das Land steckt, hat nicht allein die Geld-, Gefälligkeits- und Vetternwirtschaft bei CDU und SPD ausgelöst, sondern der Parteienstaat, der sich z. B. ein Parteiengesetz zurechtlegt, das zwar finanzielle Sanktionen für Parteien vorsieht, aber jene vor Strafe bewahrt, die für die Verstöße, Drehs und Tricks verantwortlich oder mitverantwortlich sind. Dafür holen sich die Parteien beim Staat jährlich eine Viertelmilliarde Direktsubventionen ab – nicht eingerechnet die Diäten und andere Leistungen an Personen. Am Sonntag wurde nicht nur ein neuer Landtag gewählt, der Parteienstaat erhielt auch eine gelbe Karte.

Natürlich kann man auch von „Stabilität“ reden, wenn sich in Hessen über 97 Prozent der Parteisoldaten der CDU auf dem Parteitag SED-mäßig zusammenrotten, sich die Ohren verstopfen und die Augen zukleistern, um medienwirksam „Roland Koch“ zu brüllen, ohne über dessen Verhalten auch nur zu diskutieren: Parteitags„demokratie“, die mit Regie alles, mit Demokratie nur hinter dem Komma zu tun hat.

In Schleswig-Holstein erwies sich die CDU-Wählerschaft insofern als „stabil“, als sich diese Durchhaltetruppe im „Affären-Land“ (FAZ 28. 2. 2000) offensichtlich durch nichts davon abhalten lässt, CDU zu wählen. Die Nochwähler im Parteienstaat sind wirklichkeitsresistent geworden, aber sie werden mit jedem Wahlgang weniger. Der notorisch gesunde Menschenverstand nennt dieses Verhalten „wahltreu“, und Thomas Schmid von der Welt sieht das Wahlergebnis als „Macht- und Freiheitsgewinn“ sowie als Beleg für „die Stabilität eines großen Parteisystems“, das schon so erstarrt ist, dass es zwischen Macht und Freiheit gar nicht mehr unterscheiden kann.

Die Nochwähler sind wirklichkeitsresistent, aber sie werden immer weniger

Spätestens wenn in einigen Jahren nur noch 50 Prozent oder weniger Wahlberechtigte zur Wahl gehen – wie in den USA –, werden Merkel-Müntefering-Westerwelle-Bütikofer merken, dass es etwas gar nicht mehr gibt, was sie immer beschwören – eine Demokratie, die diesen Namen verdient. Die beginnt in jedem Turnverein damit, dass die Mitglieder mitreden und mitentscheiden.

Den Grünen droht mit ihrem vorbehaltlosen Eintritt ins Kartell des staatlich subventionierten Parteienwesens nichts Geringeres als der Untergang. Die Spitzenleute werden sich absetzen, die Wähler laufen ihnen sowieso weg. Es bliebe ihnen der Ausweg über „das Brutushafte“ (FAZ 26. 2. 2000) wie bei der FDP, aber in dieser Disziplin des virtuosen Koalitionswechsels sind Lambsdorff, Brüderle, Möllemann und die anderen dem grünen Personal dank fünfzigjähriger Praxis ziemlich überlegen. Schröder und Clement vergießen darüber keine Tränen. Sie machen dem Partner Möllemann schon schöne Augen. Joschka Fischer und alle anderen lucky Boys and Girls werden sich vielleicht bald eine andere jobsichernde Partei suchen müssen. Braucht Westerwelle nicht bald einen neuen Vorsitzenden und viel Hilfspersonal? Rudolf Walther