Organisierter Asylmissbrauch

Mit falscher Identität sollen sich rund 500 Asylbewerber in Bremen Millionenbeträge erschlichen haben. Ausländerbeauftragte warnt vor Stimmungsmache ■ Von Eva Rhode

Bremen (taz) – Bundesdeutsche Sozialämter sind nach Schätzungen der Bremer Innenbehörde durch organisierten Asylmissbrauch um mehrere 100 Millionen bis zu einer Milliarde Mark betrogen worden. Diese Zahl nannte gestern der Sprecher des Bremer Innenressorts, Hartmut Spiesecke. Am Wochenende war bekannt geworden, dass die Bremer Kriminalpolizei mehr als 500 Personen ermittelt hatte, die sich unter einer falschen Identität jahrelang Sozialhilfe erschlichen haben sollen.

Die Bremer Sozialsenatorin Hilde Adolf (SPD) hat zu maßvollem Handeln aufgerufen. „Ich mache mir Sorgen, dass alle Ausländer, die Sozialhilfe beziehen, jetzt möglicherweise kriminalisiert werden.“ Und Marieluise Beck, Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, mahnte: „Die Politik sollte jetzt nicht die Funktion der Justiz übernehmen wollen, sondern dafür Sorge tragen, dass aus den Vorfällen keine unnötige Asylmissbrauchsdiskussion wird.“

Rund 500 Personen werden verdächtigt, statt ihrer türkischen eine libanesische Staatsangehörigkeit angegeben zu haben. Bei 181 Personen, deren Asylantrag inzwischen abgelehnt worden ist, sei jeder Zweifel weitgehend ausgeschlossen. Der betroffene Personenkreis soll zwischen 1986 und 1992 aus der Türkei eingereist sein und seither zumeist von Sozialhilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gelebt haben.

Nach Erkenntnissen der Ermittlungsgruppe „EG 19“ beim Innensenator seien diese Personen nach einem ersten Asylantrag als türkische Staatsbürger jedoch untergetaucht und hätten dann andernorts einen weiteren, vermeintlichen Erstantrag gestellt. Dies sei dann aber unter anderem Namen und als libanesische Staatsangehörige geschehen. Dadurch sei im Fall einer Asylablehnung eine Abschiebung unmöglich geworden, da der Libanon die Personen nicht als Staatsbürger anerkannte.

Die Großfamilien sollen aus Dörfern in Südostanatolien stammen. Dabei sind die Fahnder jedoch möglichen Verwandschaftsverbindungen, die im kurdischen Gebiet über die Staatsgrenzen hinweg bestehen könnten, offenbar nicht nachgegangen. Über weitere Details wollten die Ermittler keine Angaben machen.

Zum Aufdecken des vermeintlichen Betrugs soll es anhand von Einzelfällen gekommen sein. So seien Beamte bereits vor einigen Jahren auf angeblich türkische Asylbewerber gestoßen, die später in Bremen als libanesische Kurden einen Asylantrag gestellt hatten. Die Ermittlung dieser Fälle sei aber sehr schwierig, da das Einreisedatum zumeist so weit zurückliegt, dass in vielen Fällen vom ersten Asylantrag noch keine Fingerabdrücke vorliegen. Die Bremer Innenbehörde forderte nun das Bundesinnenministerium auf, die Kommunen mit dem Problem solcher Ermittlungen nicht alleine zu lassen.

Die Bremer Ermittler unterhalten Kontakte zu rund 60 Städten und Gemeinden. 24 ausreisepflichtige Personen sind bereits abgeschoben worden. In weiteren Fällen sei man in Vorbereitung. Allerdings sei nicht ausgeschlossen, dass die Betroffenen erneut Asylanträge stellen. Von den drohenden Abschiebungen werden sehr viele Kinder und Jugendliche betroffen sein, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Es sei möglich, dass die Abschiebungen auch mit Hilfe eines deutschen Fremdenpasses vorgenommen werden könnten, so die Bremer Ausländerbehörde.

Die Innenbehörde wollte keine Stellung zu Einzelfällen nehmen, in denen eine Abschiebung bereits gescheitert ist. Nach Angaben von Bremer Anwälten handelte es sich dabei um zwei junge Kurden, denen trotz eines türkischen Passersatzes die Einreise 1998 und 1999 in die Türkei verwehrt wurde. Die falsche türkische Identität der Männer sei von den türkischen Behörden überprüft worden, weil sie im wehrdienstpflichtigen Alter waren.