Erwachsenwerden mit Psychopharmaka

Immer mehr Kinder werden in den USA mit legalen Drogen ruhig gestellt. Selbst bei Zweijährigen greifen die Eltern häufig zu Antidepressiva und Stimmungsaufheller

Ritalin hilft da, wo Kinder nicht das tun, was Eltern und Lehrer von ihnen wollen: Still sitzen, Klappe halten, lernen!

Auf Schulen weisen in Amerika Straßenschilder mit der Aufschrift „DRUG FREE SCHOOL ZONE“ hin. Jedes Schulkind kann die Litanei von den gefährlichen Drogen herbeten, und die meisten Schulen haben Drogenvorbeugungsprogramme. An den gleichen Schulen aber werden immer mehr legale Drogen verabreicht.

Vor einem Jahr schockierte ein Bericht in der New York Times die Öffentlichkeit: Die Verschreibung der Droge Ritalin habe sich in den 90er-Jahren verdoppelt, sodass die Krankenstationen an Schulen heute von der Anforderung überwältigt werden, die Pille auszugeben; es fehlt an Personal. Der Schock wurde letzte Woche von einem neuen Bericht noch übertroffen. Fast alle amerikanischen Tageszeitungen machten mit einer Studie auf, die in der Zeitschrift des amerikanischen Ärzteverbandes Jama veröffentlicht worden war: Zwischen 1991 und 1995 hat sich der Gebrauch von Psychodrogen bei Kindern zwischen zwei und vier Jahren verdoppelt. Heute nehmen 1,5 Prozent der Kinder im Vorschulalter Psychopharmaka, darunter Antidepressiva wie Ritalin und Clonodine, eigentlich ein Mittel gegen Bluthochdruck, das sich wachsender Popularität als Stimmungsaufheller erfreut.

Die Kontroverse um die Droge Ritalin und ihre Verschreibung gegen eine als Attention Deficit Disorder (ADD) oder Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD), im Volksmund auch Zappelphilippkrankheit genannt, bekannte Störung ist nicht neu. Seit 1990 ist die Zahl der Kinder, denen das Medikament verschrieben wird, auf rund vier Millionen angewachsen. Die Produktion des von Novartis hergestellten Medikaments hat um 700 Prozent zugenommen, 90 Prozent davon werden in den USA eingenommen.

Auf dem US-Markt gibt es inzwischen zwei Bücher über ADD und drei über Ritalin, die sich vorwiegend kritisch mit dem Versuch auseinandersetzen, Kindheit zu pathologisieren und per Verschreibung zu therapieren. Schuld an der wachsenden Zahl von zappelnden Problemkindern seien gestiegenes Lebenstempo und größere Klassen, Mangel an Zeit für die Kinder und härtere Anforderung an ihre doppelverdienenden Eltern – und natürlich der flirrende Schnellfeuerbeschuss des elektronischen Medienzeitalters.

Die Kontroverse wird unter Medizinern ausgetragen, aber auch zwischen Medizinern und Kulturkritikern. Dazwischen stehen die betroffenen Eltern. Vertreten werden sie von Chadd (Kinder und Erwachsene mit ADD), eine Interessengruppe, die die Zulassung von Ritalin als verschreibungspflichtige Droge gepuscht hatte. Chadd hatte, wie H. Dillers in seinem Buch „Running on Ritalin“ berichtet, über einen Zeitraum von fünf Jahren 900.000 Dollar von Novartis bekommen.

Methylphenidate, der generische Name für die Droge, die als Ritalin auf den Markt kommt, ist ein Amphetamin und in seiner Wirkung dem Methamphetamine verwandt sowie nach einem Bericht der amerikanischen Drogenbehörde dem Kokain in seiner Wirkung vergleichbar. Die Droge führt kurzfristig zu erhöhter Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Ritalin wird entsprechend auch in wachsendem Maße von Erwachsenen genommen. Die Behauptung, dass Methylphenidate nicht süchtig mache und deswegen nicht zu Missbrauch führen kann, ist inzwischen umstritten, nachdem der Autor Richard DeGrandpre in seinem Buch „Ritalin Nation“ Untersuchungen vorlegte, die zeigen, dass Ritalin zerstoßen und geschnupft als Droge unter Schülern immer beliebter wird.

„Methylphenidate sieht aus wie ein Amphetamin, wirkt wie ein Amphetamin und wird wie Amphetamin missbraucht“, fasst Mary Eberstadt in einer von der Heritage Foundation publizierten Literaturstudie zusammen. Ritalin sei weiter nichts als Gehirn-Doping für die Klasse der Bessersituierten im Lande. Mit anderen Worten: Ritalin hilft da, wo Kinder nicht das tun, was Eltern und Lehrer von ihnen wollen: Still sitzen, Klappe halten, lernen!

Einen konträren Standpunkt dazu nimmt Malcolm Gladwell ein, der sich im New Yorker zum Thema äußerte. Das Nintendo-Zeitalter schaffe nicht die hibbeligen Kinder, sondern lasse deren Schwächen nur deutlicher hervortreten. ADD-Kinder haben mit dem Nintendo- und anderen elektronischen Spielen, die ihre Krankheit verursachen sollen, größere Schwierigkeiten als „normale“ Kinder.

Methylphenidate ist nicht nur dem Kokain verwandt, sondern auch einer Alltagsdroge, die heute in Amerika zwar weitgehend in Ungunst gefallen ist, tausenden aber geholfen hatte, mit den Anforderungen der Moderne fertig zu werden: dem Tabak. Der deutsche Autor Wolfgang Schivelbusch könnte seine These stützen. Er hatte in seiner „Geschichte der Genüsse“ die Drogen des Adels von denen des Bürgertums unterschieden. Tabak, die „trockene Trunkenheit“, und Kaffee seien die Drogen der arbeitsamen Bourgeoisie, Wein und Kakao dagegen die des unproduktiven Adels. Für Gladwell ist Ritalin eine Chemikalie ähnlich dem Nikotin und Kokain. Sie erhöht den Dopaminlevel im Gehirn und damit die Konzentrationsfähigkeit. Mit Ritalin werde dieses Hilfsmittel auch Kindern zugänglich gemacht.

In einer Online-Diskussion für das elektronische Magazin Slate arbeiteten denn auch Natalie Angier und Jonathan Weiner heraus, dass mit dem Trend zur Verschreibung Ritalins an immer kleinere Kinder amerikanische Eltern sich einem weltweiten Trend anschließen: „Wieso erwarten wir, dass unsere Kids Spaß haben sollen? Was hat Spaß damit zu tun? Im größten Teil der Welt haben Kinder keine Kindheit. Sie beginnen mit zwei oder drei Jahren zu arbeiten – just in dem Alter, in dem wir unseren Kids Ritalin verschreiben –, sie arbeiten auf dem Feld, schleppen Wasser und passen auf Geschwister auf.“

Peter Tautfest, Washington